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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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mung, und den daraus entspringenden Reproductions-
Gesetzen.

7) Die Verschmelzung vor der Hemmung kann
nun zwar bey sinnlichen Empfindungen vorkommen, und
dieselbe in ein Gefühl verwandeln: aber sie ist kei-
nesweges an die Sinnlichkeit
(als eine Receptivi-
tät, und Passivität gegen den Leib,) gebunden. Man
gehe in den §. 72. zurück, und man wird finden, dass
durchaus Nichts auf die Frage ankommt, woher die ver[-]
schmelzenden Vorstellungen stammen, sondern Alles le-
diglich darauf, dass sie da seyen. Wären die Vorstel-
lungen aller Töne in der Tonlinie dem Menschen ange-
boren, könnte er durch blosse Spontaneität je zwei und
je drei oder vier solcher Vorstellungen ins Bewusstseyn
bringen; hörte er dagegen niemals ein Instrument, nie-
mals eine Singstimme: gleichwohl würde, gerade wie jetzt,
für ihn die Octave das Verhältniss des vollen Gegen-
satzes, die Quinte (deren Gleichartigkeit [Formel 1] ne-
ben beyden Gegensätzen [Formel 2] gerade auf die stati-
sche Schwelle fällt, also unwirksam gemacht wird,) das
der Octave in Hinsicht der Consonanz am nächsten ste-
hende Intervall seyn; die falsche Quinte, deren Gleich-
artigkeit den Gegensätzen gerade gleich ist, die stärkste
Dissonanz ergeben, (wegen des stärksten möglichen, un-
ausgeglichenen Widerstreits zwischen den drey durch die
Zerlegung entstandenen Kräften;) ja es würden sich auch
für ihn die Töne des reinen Accordes gegenseitig in drey
Kräfte brechen, nahe im Verhältniss der Zahlen 3, 4,
und 5, oder genauer so, dass auch hier die schwächste,
in der Brechung entstehende Kraft, neben den andern
auf der statischen Schwelle sey *); und auch für ihn
würde es nicht mehr und nicht weniger als zwey reine

*) Die Art der Brechung, welche hier gemeint, und im zwey-
ten Heft des Königsberger Archivs (von 1811) entwickelt ist, kann
der Leser zunächst in gegenwärtigem Werke §. 98., gegen das Ende,
nachsuchen.

mung, und den daraus entspringenden Reproductions-
Gesetzen.

7) Die Verschmelzung vor der Hemmung kann
nun zwar bey sinnlichen Empfindungen vorkommen, und
dieselbe in ein Gefühl verwandeln: aber sie ist kei-
nesweges an die Sinnlichkeit
(als eine Receptivi-
tät, und Passivität gegen den Leib,) gebunden. Man
gehe in den §. 72. zurück, und man wird finden, daſs
durchaus Nichts auf die Frage ankommt, woher die ver[-]
schmelzenden Vorstellungen stammen, sondern Alles le-
diglich darauf, daſs sie da seyen. Wären die Vorstel-
lungen aller Töne in der Tonlinie dem Menschen ange-
boren, könnte er durch bloſse Spontaneität je zwei und
je drei oder vier solcher Vorstellungen ins Bewuſstseyn
bringen; hörte er dagegen niemals ein Instrument, nie-
mals eine Singstimme: gleichwohl würde, gerade wie jetzt,
für ihn die Octave das Verhältniſs des vollen Gegen-
satzes, die Quinte (deren Gleichartigkeit [Formel 1] ne-
ben beyden Gegensätzen [Formel 2] gerade auf die stati-
sche Schwelle fällt, also unwirksam gemacht wird,) das
der Octave in Hinsicht der Consonanz am nächsten ste-
hende Intervall seyn; die falsche Quinte, deren Gleich-
artigkeit den Gegensätzen gerade gleich ist, die stärkste
Dissonanz ergeben, (wegen des stärksten möglichen, un-
ausgeglichenen Widerstreits zwischen den drey durch die
Zerlegung entstandenen Kräften;) ja es würden sich auch
für ihn die Töne des reinen Accordes gegenseitig in drey
Kräfte brechen, nahe im Verhältniſs der Zahlen 3, 4,
und 5, oder genauer so, daſs auch hier die schwächste,
in der Brechung entstehende Kraft, neben den andern
auf der statischen Schwelle sey *); und auch für ihn
würde es nicht mehr und nicht weniger als zwey reine

*) Die Art der Brechung, welche hier gemeint, und im zwey-
ten Heft des Königsberger Archivs (von 1811) entwickelt ist, kann
der Leser zunächst in gegenwärtigem Werke §. 98., gegen das Ende,
nachsuchen.
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[94/0129] mung, und den daraus entspringenden Reproductions- Gesetzen. 7) Die Verschmelzung vor der Hemmung kann nun zwar bey sinnlichen Empfindungen vorkommen, und dieselbe in ein Gefühl verwandeln: aber sie ist kei- nesweges an die Sinnlichkeit (als eine Receptivi- tät, und Passivität gegen den Leib,) gebunden. Man gehe in den §. 72. zurück, und man wird finden, daſs durchaus Nichts auf die Frage ankommt, woher die ver- schmelzenden Vorstellungen stammen, sondern Alles le- diglich darauf, daſs sie da seyen. Wären die Vorstel- lungen aller Töne in der Tonlinie dem Menschen ange- boren, könnte er durch bloſse Spontaneität je zwei und je drei oder vier solcher Vorstellungen ins Bewuſstseyn bringen; hörte er dagegen niemals ein Instrument, nie- mals eine Singstimme: gleichwohl würde, gerade wie jetzt, für ihn die Octave das Verhältniſs des vollen Gegen- satzes, die Quinte (deren Gleichartigkeit [FORMEL] ne- ben beyden Gegensätzen [FORMEL] gerade auf die stati- sche Schwelle fällt, also unwirksam gemacht wird,) das der Octave in Hinsicht der Consonanz am nächsten ste- hende Intervall seyn; die falsche Quinte, deren Gleich- artigkeit den Gegensätzen gerade gleich ist, die stärkste Dissonanz ergeben, (wegen des stärksten möglichen, un- ausgeglichenen Widerstreits zwischen den drey durch die Zerlegung entstandenen Kräften;) ja es würden sich auch für ihn die Töne des reinen Accordes gegenseitig in drey Kräfte brechen, nahe im Verhältniſs der Zahlen 3, 4, und 5, oder genauer so, daſs auch hier die schwächste, in der Brechung entstehende Kraft, neben den andern auf der statischen Schwelle sey *); und auch für ihn würde es nicht mehr und nicht weniger als zwey reine *) Die Art der Brechung, welche hier gemeint, und im zwey- ten Heft des Königsberger Archivs (von 1811) entwickelt ist, kann der Leser zunächst in gegenwärtigem Werke §. 98., gegen das Ende, nachsuchen.

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/129>, abgerufen am 03.05.2024.