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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825.

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Eine grosse Klasse der psychologischen Ereignisse fällt,
und also auch einer psychologischen Erklärung bedarf.
Obschon die allgemeine Metaphysik lehrt, dass man auch
die von uns unabhängige, reale Welt durch Begriffe des
Raums und der Zeit denken müsse, so darf man sich
doch nicht einbilden, dass dieser Raum und diese
Zeit gleichsam von aussen her in die Seele kämen, und
in die Wahrnehmungen der Sinne hinübergingen; son-
dern in dem ganz unreimlichen Vorstellen müs-
sen die räumlichen Bestimmungen des Vorgestellten
sich von vorn an erzeugen. Obschon zur Befriedigung
unserer Begierden wirkliche, reale Gegenstände nöthig
sind: so dringen doch diese Gegenstände nicht in die
Seele; was uns unmittelbar befriedigt, das ist eine
blosse Vorstellung, in einem psychologisch zu bestim-
menden Verhältnisse zu andern, schon vorhandenen Vor-
stellungen. Obschon wirkliche Schwingungen von Kör-
pern ausser uns nöthig sind, damit wir harmonische Ver-
hältnisse von Tönen mit Lust vernehmen können: so ge-
schieht doch nicht das Mindeste, was mit diesen Schwin-
gungen auch nur die entfernteste Aehnlichkeit hätte, in
der Seele selbst; sondern etwas ganz Heterogenes (Ver-
schmelzungen vor der Hemmung) muss in uns geschehn,
woraus diese, und auf ähnliche Weise auch andere Lust-
gefühle, sich rein psychologisch erklären lassen. Mit ei-
nem Worte, die Psychologie hat mit dem Idealismus
alle Fragen gemein; nur nicht die Antworten. Und die
Seele wohnt zwar in einem Leibe, auch giebt es corre-
spondirende Zustände des einen und der andern; aber
nichts leibliches geschieht in der Seele, nichts rein-gei-
stiges, das wir zu unserm Ich rechnen könnten, geschieht
im Leibe; die Affectionen des Leibes sind keine Vor-
stellungen des Ich, und unsre angenehmen und unange-
nehmen Gefühle liegen nicht unmittelbar in dem begün-
stigten und gehinderten organischen Leben *).

*) Mangel an Uebung in den Ansichten des Idealismus ist gerade
der Hauptgrund, weshalb selbst scharfsinnigen Physiologen die Be-

Eine groſse Klasse der psychologischen Ereignisse fällt,
und also auch einer psychologischen Erklärung bedarf.
Obschon die allgemeine Metaphysik lehrt, daſs man auch
die von uns unabhängige, reale Welt durch Begriffe des
Raums und der Zeit denken müsse, so darf man sich
doch nicht einbilden, daſs dieser Raum und diese
Zeit gleichsam von auſsen her in die Seele kämen, und
in die Wahrnehmungen der Sinne hinübergingen; son-
dern in dem ganz unreimlichen Vorstellen müs-
sen die räumlichen Bestimmungen des Vorgestellten
sich von vorn an erzeugen. Obschon zur Befriedigung
unserer Begierden wirkliche, reale Gegenstände nöthig
sind: so dringen doch diese Gegenstände nicht in die
Seele; was uns unmittelbar befriedigt, das ist eine
bloſse Vorstellung, in einem psychologisch zu bestim-
menden Verhältnisse zu andern, schon vorhandenen Vor-
stellungen. Obschon wirkliche Schwingungen von Kör-
pern auſser uns nöthig sind, damit wir harmonische Ver-
hältnisse von Tönen mit Lust vernehmen können: so ge-
schieht doch nicht das Mindeste, was mit diesen Schwin-
gungen auch nur die entfernteste Aehnlichkeit hätte, in
der Seele selbst; sondern etwas ganz Heterogenes (Ver-
schmelzungen vor der Hemmung) muſs in uns geschehn,
woraus diese, und auf ähnliche Weise auch andere Lust-
gefühle, sich rein psychologisch erklären lassen. Mit ei-
nem Worte, die Psychologie hat mit dem Idealismus
alle Fragen gemein; nur nicht die Antworten. Und die
Seele wohnt zwar in einem Leibe, auch giebt es corre-
spondirende Zustände des einen und der andern; aber
nichts leibliches geschieht in der Seele, nichts rein-gei-
stiges, das wir zu unserm Ich rechnen könnten, geschieht
im Leibe; die Affectionen des Leibes sind keine Vor-
stellungen des Ich, und unsre angenehmen und unange-
nehmen Gefühle liegen nicht unmittelbar in dem begün-
stigten und gehinderten organischen Leben *).

*) Mangel an Uebung in den Ansichten des Idealismus ist gerade
der Hauptgrund, weshalb selbst scharfsinnigen Physiologen die Be-
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[68/0103] Eine groſse Klasse der psychologischen Ereignisse fällt, und also auch einer psychologischen Erklärung bedarf. Obschon die allgemeine Metaphysik lehrt, daſs man auch die von uns unabhängige, reale Welt durch Begriffe des Raums und der Zeit denken müsse, so darf man sich doch nicht einbilden, daſs dieser Raum und diese Zeit gleichsam von auſsen her in die Seele kämen, und in die Wahrnehmungen der Sinne hinübergingen; son- dern in dem ganz unreimlichen Vorstellen müs- sen die räumlichen Bestimmungen des Vorgestellten sich von vorn an erzeugen. Obschon zur Befriedigung unserer Begierden wirkliche, reale Gegenstände nöthig sind: so dringen doch diese Gegenstände nicht in die Seele; was uns unmittelbar befriedigt, das ist eine bloſse Vorstellung, in einem psychologisch zu bestim- menden Verhältnisse zu andern, schon vorhandenen Vor- stellungen. Obschon wirkliche Schwingungen von Kör- pern auſser uns nöthig sind, damit wir harmonische Ver- hältnisse von Tönen mit Lust vernehmen können: so ge- schieht doch nicht das Mindeste, was mit diesen Schwin- gungen auch nur die entfernteste Aehnlichkeit hätte, in der Seele selbst; sondern etwas ganz Heterogenes (Ver- schmelzungen vor der Hemmung) muſs in uns geschehn, woraus diese, und auf ähnliche Weise auch andere Lust- gefühle, sich rein psychologisch erklären lassen. Mit ei- nem Worte, die Psychologie hat mit dem Idealismus alle Fragen gemein; nur nicht die Antworten. Und die Seele wohnt zwar in einem Leibe, auch giebt es corre- spondirende Zustände des einen und der andern; aber nichts leibliches geschieht in der Seele, nichts rein-gei- stiges, das wir zu unserm Ich rechnen könnten, geschieht im Leibe; die Affectionen des Leibes sind keine Vor- stellungen des Ich, und unsre angenehmen und unange- nehmen Gefühle liegen nicht unmittelbar in dem begün- stigten und gehinderten organischen Leben *). *) Mangel an Uebung in den Ansichten des Idealismus ist gerade der Hauptgrund, weshalb selbst scharfsinnigen Physiologen die Be-

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg, 1825, S. 68. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie02_1825/103>, abgerufen am 24.11.2024.