unvermeidlich befangen sind. Sie können nur dadurch versöhnt werden, dass sie einsehn lernen, wie die Meta- physik gerade dasselbe Geschäfft nur fortführt und zu Ende bringt, was der gemeine Verstand, nothgedrungen durch das Widersprechende in den Formen der Erscheinung, von selbst beginnt, indem er die Begriffe von Substanz und Ursache erfindet. Denn diese Begriffe sind keine angeborne, sondern erfundene; sie sind nicht Katego- rien, die unbeweglich vest stünden, und die man darum so lassen müsste, wie sie stünden; sondern es sind halb- vollendete Productionen, die man ganz zu Stande brin- gen muss, damit die Knoten, welche der gemeine Ver- stand nur vorläufig zur Seite geschoben hat, zu einer voll- ständigen Auflösung gelangen mögen.
Jene Formen der Erscheinungen aber sind keine an- dern, als die Complexionen, welche wir für die Verknü- pfungen mehrerer Merkmale Eines Dinges ansehn; die Veränderungen dieser Complexionen, welche wir für Ver- änderungen der Dinge nehmen; ferner der Raum, die Zeit, und das Ich. Nachdem die Einsicht gewonnen ist, dass keine dieser, in der Anschauung gefundenen Formen für sich denkbar ist, sucht die Metaphysik die Bezie- hungen derselben auf, wodurch die vorigen Widersprüche verschwinden *).
Wie verhalten sich nun dazu die Principien der Psychologie?
Unter den vorhin genannten Formen ist eine, näm- lich das Ich, welche eben sowohl zur Psychologie als zur allgemeinen Metaphysik gerechnet werden kann; ja das Ich scheint nicht eine Form, sondern gerade der eigent- liche Gegenstand der Psychologie zu seyn. Dass nun gleichwohl die Untersuchung desselben in die allgemeine
*) Was hier behauptet ist, müssen fürs erste meine schon oben genannten Hauptpuncte der Metaphysik verantworten. Man vergleiche auch unten, §. 33--35., und mein Lehrbuch zur Einleitung in die Phi- losophie, im vierten Abschnitte.
unvermeidlich befangen sind. Sie können nur dadurch versöhnt werden, daſs sie einsehn lernen, wie die Meta- physik gerade dasselbe Geschäfft nur fortführt und zu Ende bringt, was der gemeine Verstand, nothgedrungen durch das Widersprechende in den Formen der Erscheinung, von selbst beginnt, indem er die Begriffe von Substanz und Ursache erfindet. Denn diese Begriffe sind keine angeborne, sondern erfundene; sie sind nicht Katego- rien, die unbeweglich vest stünden, und die man darum so lassen müſste, wie sie stünden; sondern es sind halb- vollendete Productionen, die man ganz zu Stande brin- gen muſs, damit die Knoten, welche der gemeine Ver- stand nur vorläufig zur Seite geschoben hat, zu einer voll- ständigen Auflösung gelangen mögen.
Jene Formen der Erscheinungen aber sind keine an- dern, als die Complexionen, welche wir für die Verknü- pfungen mehrerer Merkmale Eines Dinges ansehn; die Veränderungen dieser Complexionen, welche wir für Ver- änderungen der Dinge nehmen; ferner der Raum, die Zeit, und das Ich. Nachdem die Einsicht gewonnen ist, daſs keine dieser, in der Anschauung gefundenen Formen für sich denkbar ist, sucht die Metaphysik die Bezie- hungen derselben auf, wodurch die vorigen Widersprüche verschwinden *).
Wie verhalten sich nun dazu die Principien der Psychologie?
Unter den vorhin genannten Formen ist eine, näm- lich das Ich, welche eben sowohl zur Psychologie als zur allgemeinen Metaphysik gerechnet werden kann; ja das Ich scheint nicht eine Form, sondern gerade der eigent- liche Gegenstand der Psychologie zu seyn. Daſs nun gleichwohl die Untersuchung desselben in die allgemeine
*) Was hier behauptet ist, müssen fürs erste meine schon oben genannten Hauptpuncte der Metaphysik verantworten. Man vergleiche auch unten, §. 33—35., und mein Lehrbuch zur Einleitung in die Phi- losophie, im vierten Abschnitte.
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unvermeidlich befangen sind. Sie können nur dadurch
versöhnt werden, daſs sie einsehn lernen, wie die Meta-
physik gerade dasselbe Geschäfft nur fortführt und zu Ende
bringt, was der gemeine Verstand, nothgedrungen durch
das Widersprechende in den Formen der Erscheinung,
von selbst beginnt, indem er die Begriffe von Substanz
und Ursache erfindet. Denn diese Begriffe sind keine
angeborne, sondern erfundene; sie sind nicht Katego-
rien, die unbeweglich vest stünden, und die man darum
so lassen müſste, wie sie stünden; sondern es sind halb-
vollendete Productionen, die man ganz zu Stande brin-
gen muſs, damit die Knoten, welche der gemeine Ver-
stand nur vorläufig zur Seite geschoben hat, zu einer voll-
ständigen Auflösung gelangen mögen.
Jene Formen der Erscheinungen aber sind keine an-
dern, als die Complexionen, welche wir für die Verknü-
pfungen mehrerer Merkmale Eines Dinges ansehn; die
Veränderungen dieser Complexionen, welche wir für Ver-
änderungen der Dinge nehmen; ferner der Raum, die
Zeit, und das Ich. Nachdem die Einsicht gewonnen ist,
daſs keine dieser, in der Anschauung gefundenen Formen
für sich denkbar ist, sucht die Metaphysik die Bezie-
hungen derselben auf, wodurch die vorigen Widersprüche
verschwinden *).
Wie verhalten sich nun dazu die Principien der
Psychologie?
Unter den vorhin genannten Formen ist eine, näm-
lich das Ich, welche eben sowohl zur Psychologie als zur
allgemeinen Metaphysik gerechnet werden kann; ja das
Ich scheint nicht eine Form, sondern gerade der eigent-
liche Gegenstand der Psychologie zu seyn. Daſs nun
gleichwohl die Untersuchung desselben in die allgemeine
*) Was hier behauptet ist, müssen fürs erste meine schon oben
genannten Hauptpuncte der Metaphysik verantworten. Man vergleiche
auch unten, §. 33—35., und mein Lehrbuch zur Einleitung in die Phi-
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/58>, abgerufen am 24.07.2024.
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