Die Religionslehre würde mit der Ontologie verschmol- zen, an der Spitze der ganzen Metaphysik treten, wenn eine unmittelbare Erkenntniss Gottes, als des Absolu- ten, vorhanden wäre: worüber mit verschiedenen Syste- men zu rechten hier nicht der Ort ist.
Die nämliche Ehre aber, an die Spitze der Metaphy- sik gestellt zu werden, müsste vielmehr der Psychologie widerfahren, wenn anders das berühmte Unternehmen der Vernunftkritik, ich will nicht sagen richtig ausgeführt worden, sondern nur in der ersten Anlage ein richtiger Gedanke gewesen wäre oder jemals werden könnte. -- Eine Vernunftkritik hat zu ihrem Gegenstande die Ver- nunft, oder besser das gesammte Erkenntnissvermögen; diesen Gegenstand muss sie als bekannt vorausset- zen; und hierin liegen Irrthümer, die sich durch gar Nichts wieder gut machen lassen. Vom Erkenntnissver- mögen wissen wir als von einer Summe von Thatsachen des Bewusstseyns. Noch glücklich, wenn uns diese durch innere Wahrnehmung, oder wenn man lieber will, durch Anschauung des innern Sinnes bekannt geworden sind. Alsdann aber fragt sich sogleich, wie viel Glauben die innere Anschauung verdiene? Eine Frage, welche die An- schauung selbst, nimmermehr beantworten kann. -- Al- lein es ist nicht einmal wahr, dass wir eine so unmittel- bare Kenntniss von dem sogenannten Erkenntnissvermö- gen besässen, dessen Begriff wir vielmehr aus den vor- gefundenen Producten unserer geistigen Thätigkeit her- ausgedeutet haben. Jedoch was darüber vom §. 4. an schon ist gesagt worden, darf hier nicht wiederhohlt wer- den: auf die entgegenstehende Täuschung werde ich wei- terhin noch zurückkommen.
Wofern nun die Psychologie, weit entfernt der all- gemeinen Metaphysik eine Grundlage geben zu können, an ihren Platz in der angewandten Metaphysik zurück- tritt (wo sie übrigens aus Gründen, die hier noch nicht klar seyn können, der Naturphilosophie muss vorange- stellt werden): so beruhet sie selbst auf der allgemeinen
Die Religionslehre würde mit der Ontologie verschmol- zen, an der Spitze der ganzen Metaphysik treten, wenn eine unmittelbare Erkenntniſs Gottes, als des Absolu- ten, vorhanden wäre: worüber mit verschiedenen Syste- men zu rechten hier nicht der Ort ist.
Die nämliche Ehre aber, an die Spitze der Metaphy- sik gestellt zu werden, müſste vielmehr der Psychologie widerfahren, wenn anders das berühmte Unternehmen der Vernunftkritik, ich will nicht sagen richtig ausgeführt worden, sondern nur in der ersten Anlage ein richtiger Gedanke gewesen wäre oder jemals werden könnte. — Eine Vernunftkritik hat zu ihrem Gegenstande die Ver- nunft, oder besser das gesammte Erkenntniſsvermögen; diesen Gegenstand muſs sie als bekannt vorausset- zen; und hierin liegen Irrthümer, die sich durch gar Nichts wieder gut machen lassen. Vom Erkenntniſsver- mögen wissen wir als von einer Summe von Thatsachen des Bewuſstseyns. Noch glücklich, wenn uns diese durch innere Wahrnehmung, oder wenn man lieber will, durch Anschauung des innern Sinnes bekannt geworden sind. Alsdann aber fragt sich sogleich, wie viel Glauben die innere Anschauung verdiene? Eine Frage, welche die An- schauung selbst, nimmermehr beantworten kann. — Al- lein es ist nicht einmal wahr, daſs wir eine so unmittel- bare Kenntniſs von dem sogenannten Erkenntniſsvermö- gen besäſsen, dessen Begriff wir vielmehr aus den vor- gefundenen Producten unserer geistigen Thätigkeit her- ausgedeutet haben. Jedoch was darüber vom §. 4. an schon ist gesagt worden, darf hier nicht wiederhohlt wer- den: auf die entgegenstehende Täuschung werde ich wei- terhin noch zurückkommen.
Wofern nun die Psychologie, weit entfernt der all- gemeinen Metaphysik eine Grundlage geben zu können, an ihren Platz in der angewandten Metaphysik zurück- tritt (wo sie übrigens aus Gründen, die hier noch nicht klar seyn können, der Naturphilosophie muſs vorange- stellt werden): so beruhet sie selbst auf der allgemeinen
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Die Religionslehre würde mit der Ontologie verschmol-
zen, an der Spitze der ganzen Metaphysik treten, wenn
eine unmittelbare Erkenntniſs Gottes, als des Absolu-
ten, vorhanden wäre: worüber mit verschiedenen Syste-
men zu rechten hier nicht der Ort ist.
Die nämliche Ehre aber, an die Spitze der Metaphy-
sik gestellt zu werden, müſste vielmehr der Psychologie
widerfahren, wenn anders das berühmte Unternehmen der
Vernunftkritik, ich will nicht sagen richtig ausgeführt
worden, sondern nur in der ersten Anlage ein richtiger
Gedanke gewesen wäre oder jemals werden könnte. —
Eine Vernunftkritik hat zu ihrem Gegenstande die Ver-
nunft, oder besser das gesammte Erkenntniſsvermögen;
diesen Gegenstand muſs sie als bekannt vorausset-
zen; und hierin liegen Irrthümer, die sich durch gar
Nichts wieder gut machen lassen. Vom Erkenntniſsver-
mögen wissen wir als von einer Summe von Thatsachen
des Bewuſstseyns. Noch glücklich, wenn uns diese durch
innere Wahrnehmung, oder wenn man lieber will, durch
Anschauung des innern Sinnes bekannt geworden sind.
Alsdann aber fragt sich sogleich, wie viel Glauben die
innere Anschauung verdiene? Eine Frage, welche die An-
schauung selbst, nimmermehr beantworten kann. — Al-
lein es ist nicht einmal wahr, daſs wir eine so unmittel-
bare Kenntniſs von dem sogenannten Erkenntniſsvermö-
gen besäſsen, dessen Begriff wir vielmehr aus den vor-
gefundenen Producten unserer geistigen Thätigkeit her-
ausgedeutet haben. Jedoch was darüber vom §. 4. an
schon ist gesagt worden, darf hier nicht wiederhohlt wer-
den: auf die entgegenstehende Täuschung werde ich wei-
terhin noch zurückkommen.
Wofern nun die Psychologie, weit entfernt der all-
gemeinen Metaphysik eine Grundlage geben zu können,
an ihren Platz in der angewandten Metaphysik zurück-
tritt (wo sie übrigens aus Gründen, die hier noch nicht
klar seyn können, der Naturphilosophie muſs vorange-
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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/56>, abgerufen am 03.12.2024.
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