bey mit der Genauigkeit eines tüchtigen Physikers zu Werke geht, wird finden, dass die vermeinten Nebenum- stände die Hauptsache sind, und dass von dem soge- nannten Gedächtniss nichts als der leere Name übrig bleibt.
Jede andere Seelenkraft würde auf gleiche Weise zum Beispiel dienen können. Ueberall werden die ober- sten Gattungsbegriffe mit der grössten Dreistigkeit hinge- stellt; allein überall fehlt die Achtsamkeit auf das Spe- cielle, und die genaue Beschreibung des Einzelnen; und doch ist es eben dies, worauf in einer empiri- schen Wissenschaft Alles ankommt! Oder hat schon Jemand vollständig nachgewiesen, wie sich die Ein- bildungskraft verschiedentlich in Dichtern, in Gelehrten, in Denkern, in Staatsmännern, in Feldherren, äussere? Was den Verstand der Frauen, der Künstler und der Logiker unterscheide? Welche Abstufungen die Ver- nunft in ihrer Entwickelung zeige, bey Kindern und Er- wachsenen, bey Wilden, Barbaren, Gebildeten, bey Bauern, Handwerkern, und bey den höhern Ständen? Doch die Erwähnung des Verstandes und der Vernunft, zweyer Namen, die neuerlich so verschiedene Auslegun- gen erhalten haben, dass kaum noch etwas Gemeinsames übrig bleibt, -- erinnert mich, fortzugehen zu dem zwey- ten Grunde, der uns in den psychologischen Abstractio- nen vesthält, und uns immer mehr darin vertieft.
Nachdem einmal die Seelenvermögen da sind, sollen sie auch gebraucht werden zur Erklärung dessen was in uns vorgeht. Aber je weniger von den nähern Bestim- mungen der Thatsachen in den Begriffen jener Vermö- gen enthalten ist: desto schlechter gelingt die Erklärung. Es fehlen die Mittelglieder zur Verknüpfung. Es entste- hen unbeantwortliche Fragen über das Causalverhält- niss der Seelenvermögen unter einander, wo- durch sie beym Zusammenwirken eins in das andere ein- greifen, und sich gegenseitig zur Wirksamkeit auffordern, oder veranlassen, oder nöthigen. Jede solche Frage, in-
bey mit der Genauigkeit eines tüchtigen Physikers zu Werke geht, wird finden, daſs die vermeinten Nebenum- stände die Hauptsache sind, und daſs von dem soge- nannten Gedächtniſs nichts als der leere Name übrig bleibt.
Jede andere Seelenkraft würde auf gleiche Weise zum Beispiel dienen können. Ueberall werden die ober- sten Gattungsbegriffe mit der gröſsten Dreistigkeit hinge- stellt; allein überall fehlt die Achtsamkeit auf das Spe- cielle, und die genaue Beschreibung des Einzelnen; und doch ist es eben dies, worauf in einer empiri- schen Wissenschaft Alles ankommt! Oder hat schon Jemand vollständig nachgewiesen, wie sich die Ein- bildungskraft verschiedentlich in Dichtern, in Gelehrten, in Denkern, in Staatsmännern, in Feldherren, äuſsere? Was den Verstand der Frauen, der Künstler und der Logiker unterscheide? Welche Abstufungen die Ver- nunft in ihrer Entwickelung zeige, bey Kindern und Er- wachsenen, bey Wilden, Barbaren, Gebildeten, bey Bauern, Handwerkern, und bey den höhern Ständen? Doch die Erwähnung des Verstandes und der Vernunft, zweyer Namen, die neuerlich so verschiedene Auslegun- gen erhalten haben, daſs kaum noch etwas Gemeinsames übrig bleibt, — erinnert mich, fortzugehen zu dem zwey- ten Grunde, der uns in den psychologischen Abstractio- nen vesthält, und uns immer mehr darin vertieft.
Nachdem einmal die Seelenvermögen da sind, sollen sie auch gebraucht werden zur Erklärung dessen was in uns vorgeht. Aber je weniger von den nähern Bestim- mungen der Thatsachen in den Begriffen jener Vermö- gen enthalten ist: desto schlechter gelingt die Erklärung. Es fehlen die Mittelglieder zur Verknüpfung. Es entste- hen unbeantwortliche Fragen über das Causalverhält- niſs der Seelenvermögen unter einander, wo- durch sie beym Zusammenwirken eins in das andere ein- greifen, und sich gegenseitig zur Wirksamkeit auffordern, oder veranlassen, oder nöthigen. Jede solche Frage, in-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0042"n="22"/>
bey mit der Genauigkeit eines tüchtigen Physikers zu<lb/>
Werke geht, wird finden, daſs die vermeinten Nebenum-<lb/>
stände die Hauptsache sind, und daſs von dem soge-<lb/>
nannten Gedächtniſs nichts als der leere Name übrig<lb/>
bleibt.</p><lb/><p>Jede andere Seelenkraft würde auf gleiche Weise<lb/>
zum Beispiel dienen können. Ueberall werden die ober-<lb/>
sten Gattungsbegriffe mit der gröſsten Dreistigkeit hinge-<lb/>
stellt; allein überall fehlt die Achtsamkeit auf das Spe-<lb/>
cielle, und die genaue Beschreibung des Einzelnen; <hirendition="#g">und<lb/>
doch ist es eben dies, worauf in einer <hirendition="#i">empiri-<lb/>
schen</hi> Wissenschaft Alles ankommt</hi>! Oder hat<lb/>
schon Jemand vollständig nachgewiesen, wie sich die Ein-<lb/>
bildungskraft verschiedentlich in Dichtern, in Gelehrten,<lb/>
in Denkern, in Staatsmännern, in Feldherren, äuſsere?<lb/>
Was den Verstand der Frauen, der Künstler und der<lb/>
Logiker unterscheide? Welche Abstufungen die Ver-<lb/>
nunft in ihrer Entwickelung zeige, bey Kindern und Er-<lb/>
wachsenen, bey Wilden, Barbaren, Gebildeten, bey<lb/>
Bauern, Handwerkern, und bey den höhern Ständen?<lb/>
Doch die Erwähnung des Verstandes und der Vernunft,<lb/>
zweyer Namen, die neuerlich so verschiedene Auslegun-<lb/>
gen erhalten haben, daſs kaum noch etwas Gemeinsames<lb/>
übrig bleibt, — erinnert mich, fortzugehen zu dem zwey-<lb/>
ten Grunde, der uns in den psychologischen Abstractio-<lb/>
nen vesthält, und uns immer mehr darin vertieft.</p><lb/><p>Nachdem einmal die Seelenvermögen da sind, sollen<lb/>
sie auch gebraucht werden zur Erklärung dessen was in<lb/>
uns vorgeht. Aber je weniger von den nähern Bestim-<lb/>
mungen der Thatsachen in den Begriffen jener Vermö-<lb/>
gen enthalten ist: desto schlechter gelingt die Erklärung.<lb/>
Es fehlen die Mittelglieder zur Verknüpfung. Es entste-<lb/>
hen unbeantwortliche Fragen über das <hirendition="#g">Causalverhält-<lb/>
niſs der Seelenvermögen unter einander</hi>, wo-<lb/>
durch sie beym Zusammenwirken eins in das andere ein-<lb/>
greifen, und sich gegenseitig zur Wirksamkeit auffordern,<lb/>
oder veranlassen, oder nöthigen. Jede solche Frage, in-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[22/0042]
bey mit der Genauigkeit eines tüchtigen Physikers zu
Werke geht, wird finden, daſs die vermeinten Nebenum-
stände die Hauptsache sind, und daſs von dem soge-
nannten Gedächtniſs nichts als der leere Name übrig
bleibt.
Jede andere Seelenkraft würde auf gleiche Weise
zum Beispiel dienen können. Ueberall werden die ober-
sten Gattungsbegriffe mit der gröſsten Dreistigkeit hinge-
stellt; allein überall fehlt die Achtsamkeit auf das Spe-
cielle, und die genaue Beschreibung des Einzelnen; und
doch ist es eben dies, worauf in einer empiri-
schen Wissenschaft Alles ankommt! Oder hat
schon Jemand vollständig nachgewiesen, wie sich die Ein-
bildungskraft verschiedentlich in Dichtern, in Gelehrten,
in Denkern, in Staatsmännern, in Feldherren, äuſsere?
Was den Verstand der Frauen, der Künstler und der
Logiker unterscheide? Welche Abstufungen die Ver-
nunft in ihrer Entwickelung zeige, bey Kindern und Er-
wachsenen, bey Wilden, Barbaren, Gebildeten, bey
Bauern, Handwerkern, und bey den höhern Ständen?
Doch die Erwähnung des Verstandes und der Vernunft,
zweyer Namen, die neuerlich so verschiedene Auslegun-
gen erhalten haben, daſs kaum noch etwas Gemeinsames
übrig bleibt, — erinnert mich, fortzugehen zu dem zwey-
ten Grunde, der uns in den psychologischen Abstractio-
nen vesthält, und uns immer mehr darin vertieft.
Nachdem einmal die Seelenvermögen da sind, sollen
sie auch gebraucht werden zur Erklärung dessen was in
uns vorgeht. Aber je weniger von den nähern Bestim-
mungen der Thatsachen in den Begriffen jener Vermö-
gen enthalten ist: desto schlechter gelingt die Erklärung.
Es fehlen die Mittelglieder zur Verknüpfung. Es entste-
hen unbeantwortliche Fragen über das Causalverhält-
niſs der Seelenvermögen unter einander, wo-
durch sie beym Zusammenwirken eins in das andere ein-
greifen, und sich gegenseitig zur Wirksamkeit auffordern,
oder veranlassen, oder nöthigen. Jede solche Frage, in-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/42>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.