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Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824.

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hertreiben zu lassen, so vielen anscheinend unnützen Ver-
suchen des Denkens sich hinzugeben, als die regelmässige
Auflösung erfordert. Manche glauben nicht zu denken,
sondern zu phantasiren, wenn sie ihre Gedanken nicht
gleich in gerader Linie fortführen können; und hier be-
gegnet selbst Männern dasselbe, was man sonst an Jüng-
lingen bemerkt: sie können sich zuweilen schlechterdings
nicht enthalten, schnell abzuurtheilen; sie fühlen nicht
die Nothwendigkeit, sich erst auf Untersuchung einzulas-
sen. Wie man von unerfahrnen jungen Königen erzählt,
die den Richterstuhl bestiegen hatten, und nun erst von
einer Parthey, dann von der andern sich überreden lie-
ssen, unfähig, sich das: audiatur et altera pars, einzu-
prägen; so geht es auch denen, welche in der Betrach-
tung eines metaphysischen Problems nicht geübt sind.
Die Einheit des Ich, die Einheit der Substanz, ist ihrer
Meinung nach so vollkommen klar, dass dagegen gar kein
Einspruch statt finde; aber die Vielheit im Ich (Object
und Subject) ist ihnen eben so klar; desgleichen die Viel-
heit der Attribute und Accidenzen. Daher lassen sie un-
bedenklich ein ganzes Universum aus dem Ich oder aus
der Substanz hervorgehn; sind sie eben mit der Vielheit
beschäfftigt, so achten sie nicht auf die Einheit; diese
muss sich nun gefallen lassen, ein intensives Vieles zu
seyn, so voll und so gross als eben nöthig ist, damit sich
eine Welt daraus entwickele; sind sie hingegen mit der
Einheit beschäfftigt, so kostet es sie nichts, dem Vielen
zu gebieten, dass es nur dem Scheine nach für ein Vie-
les gelten solle, der Wahrheit nach aber Eins seyn müsse.
Woher der Schein in der Wahrheit? Diese Frage
drückt sie so wenig, dass sie vielmehr den Wirbel ihrer
Gedanken, wie ein wirkliches Hervorgehn aus der Einheit,
und Rückkehren in dieselbe beschreiben. -- Gerade um-
gekehrt muss der wahre Metaphysiker nicht bloss die wi-
dersprechenden Glieder seines Problems, sondern auch
den doppelten Anspruch der Denkbarkeit und der Gül-
tigkeit, streng vesthalten, keinem etwas vergeben, keinem

hertreiben zu lassen, so vielen anscheinend unnützen Ver-
suchen des Denkens sich hinzugeben, als die regelmäſsige
Auflösung erfordert. Manche glauben nicht zu denken,
sondern zu phantasiren, wenn sie ihre Gedanken nicht
gleich in gerader Linie fortführen können; und hier be-
gegnet selbst Männern dasselbe, was man sonst an Jüng-
lingen bemerkt: sie können sich zuweilen schlechterdings
nicht enthalten, schnell abzuurtheilen; sie fühlen nicht
die Nothwendigkeit, sich erst auf Untersuchung einzulas-
sen. Wie man von unerfahrnen jungen Königen erzählt,
die den Richterstuhl bestiegen hatten, und nun erst von
einer Parthey, dann von der andern sich überreden lie-
ſsen, unfähig, sich das: audiatur et altera pars, einzu-
prägen; so geht es auch denen, welche in der Betrach-
tung eines metaphysischen Problems nicht geübt sind.
Die Einheit des Ich, die Einheit der Substanz, ist ihrer
Meinung nach so vollkommen klar, daſs dagegen gar kein
Einspruch statt finde; aber die Vielheit im Ich (Object
und Subject) ist ihnen eben so klar; desgleichen die Viel-
heit der Attribute und Accidenzen. Daher lassen sie un-
bedenklich ein ganzes Universum aus dem Ich oder aus
der Substanz hervorgehn; sind sie eben mit der Vielheit
beschäfftigt, so achten sie nicht auf die Einheit; diese
muſs sich nun gefallen lassen, ein intensives Vieles zu
seyn, so voll und so groſs als eben nöthig ist, damit sich
eine Welt daraus entwickele; sind sie hingegen mit der
Einheit beschäfftigt, so kostet es sie nichts, dem Vielen
zu gebieten, daſs es nur dem Scheine nach für ein Vie-
les gelten solle, der Wahrheit nach aber Eins seyn müsse.
Woher der Schein in der Wahrheit? Diese Frage
drückt sie so wenig, daſs sie vielmehr den Wirbel ihrer
Gedanken, wie ein wirkliches Hervorgehn aus der Einheit,
und Rückkehren in dieselbe beschreiben. — Gerade um-
gekehrt muſs der wahre Metaphysiker nicht bloſs die wi-
dersprechenden Glieder seines Problems, sondern auch
den doppelten Anspruch der Denkbarkeit und der Gül-
tigkeit, streng vesthalten, keinem etwas vergeben, keinem

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[143/0163] hertreiben zu lassen, so vielen anscheinend unnützen Ver- suchen des Denkens sich hinzugeben, als die regelmäſsige Auflösung erfordert. Manche glauben nicht zu denken, sondern zu phantasiren, wenn sie ihre Gedanken nicht gleich in gerader Linie fortführen können; und hier be- gegnet selbst Männern dasselbe, was man sonst an Jüng- lingen bemerkt: sie können sich zuweilen schlechterdings nicht enthalten, schnell abzuurtheilen; sie fühlen nicht die Nothwendigkeit, sich erst auf Untersuchung einzulas- sen. Wie man von unerfahrnen jungen Königen erzählt, die den Richterstuhl bestiegen hatten, und nun erst von einer Parthey, dann von der andern sich überreden lie- ſsen, unfähig, sich das: audiatur et altera pars, einzu- prägen; so geht es auch denen, welche in der Betrach- tung eines metaphysischen Problems nicht geübt sind. Die Einheit des Ich, die Einheit der Substanz, ist ihrer Meinung nach so vollkommen klar, daſs dagegen gar kein Einspruch statt finde; aber die Vielheit im Ich (Object und Subject) ist ihnen eben so klar; desgleichen die Viel- heit der Attribute und Accidenzen. Daher lassen sie un- bedenklich ein ganzes Universum aus dem Ich oder aus der Substanz hervorgehn; sind sie eben mit der Vielheit beschäfftigt, so achten sie nicht auf die Einheit; diese muſs sich nun gefallen lassen, ein intensives Vieles zu seyn, so voll und so groſs als eben nöthig ist, damit sich eine Welt daraus entwickele; sind sie hingegen mit der Einheit beschäfftigt, so kostet es sie nichts, dem Vielen zu gebieten, daſs es nur dem Scheine nach für ein Vie- les gelten solle, der Wahrheit nach aber Eins seyn müsse. Woher der Schein in der Wahrheit? Diese Frage drückt sie so wenig, daſs sie vielmehr den Wirbel ihrer Gedanken, wie ein wirkliches Hervorgehn aus der Einheit, und Rückkehren in dieselbe beschreiben. — Gerade um- gekehrt muſs der wahre Metaphysiker nicht bloſs die wi- dersprechenden Glieder seines Problems, sondern auch den doppelten Anspruch der Denkbarkeit und der Gül- tigkeit, streng vesthalten, keinem etwas vergeben, keinem

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Zitationshilfe: Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/163>, abgerufen am 24.11.2024.