Aeussern endigt. Demnach fallen Glieder des Leibes, Empfindungen, und Anfänge des Wirkens in jenen be- weglichen Punct; von welchem an, jedem Aussendinge seine Entfernung bestimmt wird; in welchen hinein er späterhin die Bilder abwesender Gegenstände, die ihm vorschweben, verlegen muss, weil sie ihn begleiten, und draussen keinen Platz haben. So wird der Mensch in seinen eignen Augen ein vorstellendes Wesen; und von da zu der Bemerkung, dass unter den Vorstellungen auch eine des Vorstellenden vorkomme, ist nur noch ein leich- ter Schritt.
Es möchte nun scheinen, als klebe die Vorstellung des Ich an dem sinnlichen Raume; allein nichts weniger! Es giebt eine Menge ähnlicher, nur nicht so ausgebilde- ter Constructionen, wie der Raum. Sich findet der Bür- ger mitten in bürgerlichen Verhältnissen; er hat dort ei- nen Rang und Namen; Sich findet der thätige Mann in der Mitte andrer Kräfte; der Gelehrte in dem Kreise an- drer Gelehrten; der sittlich und religiös fühlende Mensch findet Sich in einer höhern Ordnung der Dinge; aber hier ist der Platz, den sein, schon sonst bekanntes Ich darin einnimmt, nicht so leicht zu bestimmen; hier nimmt die Frage: wer bin ich? eine ernste Bedeutung an; auf die wir jedoch jetzt nicht eingehn können.
Je nachdem die Reihen von Vorstellungen beschaf- fen sind, welche im Ich zusammentreffen und sich kreu- zen; und je nachdem sie in jedem bestimmten Augen- blick aufgeregt sind: darnach richtet es sich, wie der Mensch Sich in diesem Augenblick sieht. Wirklich schwankt das Ich unaufhörlich; es ist bald ein sinnliches, bald ein vernünftiges, bald stark, bald schwach; es scheint bald auf der Oberfläche, bald in einer unergründlichen Tiefe zu liegen. Diese Wechsel erklären sich sämmt- lich aus der angedeuteten Lehre; und ebenso der son- derbare Umstand, dass die gewöhnliche Art zu reden Al- les dem Ich zueignet, selbst das, was der denkende Mensch als den eigentlichen Gehalt, das wahre Wesen
Aeuſsern endigt. Demnach fallen Glieder des Leibes, Empfindungen, und Anfänge des Wirkens in jenen be- weglichen Punct; von welchem an, jedem Auſsendinge seine Entfernung bestimmt wird; in welchen hinein er späterhin die Bilder abwesender Gegenstände, die ihm vorschweben, verlegen muſs, weil sie ihn begleiten, und drauſsen keinen Platz haben. So wird der Mensch in seinen eignen Augen ein vorstellendes Wesen; und von da zu der Bemerkung, daſs unter den Vorstellungen auch eine des Vorstellenden vorkomme, ist nur noch ein leich- ter Schritt.
Es möchte nun scheinen, als klebe die Vorstellung des Ich an dem sinnlichen Raume; allein nichts weniger! Es giebt eine Menge ähnlicher, nur nicht so ausgebilde- ter Constructionen, wie der Raum. Sich findet der Bür- ger mitten in bürgerlichen Verhältnissen; er hat dort ei- nen Rang und Namen; Sich findet der thätige Mann in der Mitte andrer Kräfte; der Gelehrte in dem Kreise an- drer Gelehrten; der sittlich und religiös fühlende Mensch findet Sich in einer höhern Ordnung der Dinge; aber hier ist der Platz, den sein, schon sonst bekanntes Ich darin einnimmt, nicht so leicht zu bestimmen; hier nimmt die Frage: wer bin ich? eine ernste Bedeutung an; auf die wir jedoch jetzt nicht eingehn können.
Je nachdem die Reihen von Vorstellungen beschaf- fen sind, welche im Ich zusammentreffen und sich kreu- zen; und je nachdem sie in jedem bestimmten Augen- blick aufgeregt sind: darnach richtet es sich, wie der Mensch Sich in diesem Augenblick sieht. Wirklich schwankt das Ich unaufhörlich; es ist bald ein sinnliches, bald ein vernünftiges, bald stark, bald schwach; es scheint bald auf der Oberfläche, bald in einer unergründlichen Tiefe zu liegen. Diese Wechsel erklären sich sämmt- lich aus der angedeuteten Lehre; und ebenso der son- derbare Umstand, daſs die gewöhnliche Art zu reden Al- les dem Ich zueignet, selbst das, was der denkende Mensch als den eigentlichen Gehalt, das wahre Wesen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0121"n="101"/>
Aeuſsern endigt. Demnach fallen Glieder des Leibes,<lb/>
Empfindungen, und Anfänge des Wirkens in jenen be-<lb/>
weglichen Punct; <hirendition="#g">von welchem an</hi>, jedem Auſsendinge<lb/>
seine Entfernung bestimmt wird; <hirendition="#g">in welchen hinein</hi><lb/>
er späterhin die Bilder abwesender Gegenstände, die ihm<lb/>
vorschweben, verlegen muſs, weil sie ihn begleiten, und<lb/>
drauſsen keinen Platz haben. So wird der Mensch in<lb/>
seinen eignen Augen ein vorstellendes Wesen; und von<lb/>
da zu der Bemerkung, daſs unter den Vorstellungen auch<lb/>
eine des Vorstellenden vorkomme, ist nur noch ein leich-<lb/>
ter Schritt.</p><lb/><p>Es möchte nun scheinen, als klebe die Vorstellung<lb/>
des Ich an dem sinnlichen Raume; allein nichts weniger!<lb/>
Es giebt eine Menge ähnlicher, nur nicht so ausgebilde-<lb/>
ter Constructionen, wie der Raum. Sich findet der Bür-<lb/>
ger mitten in bürgerlichen Verhältnissen; er hat dort ei-<lb/>
nen Rang und Namen; Sich findet der thätige Mann in<lb/>
der Mitte andrer Kräfte; der Gelehrte in dem Kreise an-<lb/>
drer Gelehrten; der sittlich und religiös fühlende Mensch<lb/>
findet Sich in einer höhern Ordnung der Dinge; aber<lb/>
hier ist der Platz, den sein, schon sonst bekanntes Ich<lb/>
darin einnimmt, nicht so leicht zu bestimmen; hier nimmt<lb/>
die Frage: wer bin ich? eine ernste Bedeutung an; auf<lb/>
die wir jedoch jetzt nicht eingehn können.</p><lb/><p>Je nachdem die Reihen von Vorstellungen beschaf-<lb/>
fen sind, welche im Ich zusammentreffen und sich kreu-<lb/>
zen; und je nachdem sie in jedem bestimmten Augen-<lb/>
blick aufgeregt sind: darnach richtet es sich, wie der<lb/>
Mensch Sich in diesem Augenblick sieht. Wirklich<lb/>
schwankt das Ich unaufhörlich; es ist bald ein sinnliches,<lb/>
bald ein vernünftiges, bald stark, bald schwach; es scheint<lb/>
bald auf der Oberfläche, bald in einer unergründlichen<lb/>
Tiefe zu liegen. Diese Wechsel erklären sich sämmt-<lb/>
lich aus der angedeuteten Lehre; und ebenso der son-<lb/>
derbare Umstand, daſs die gewöhnliche Art zu reden Al-<lb/>
les dem Ich <hirendition="#g">zueignet</hi>, selbst das, was der denkende<lb/>
Mensch als den eigentlichen Gehalt, das wahre <hirendition="#g">Wesen</hi><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[101/0121]
Aeuſsern endigt. Demnach fallen Glieder des Leibes,
Empfindungen, und Anfänge des Wirkens in jenen be-
weglichen Punct; von welchem an, jedem Auſsendinge
seine Entfernung bestimmt wird; in welchen hinein
er späterhin die Bilder abwesender Gegenstände, die ihm
vorschweben, verlegen muſs, weil sie ihn begleiten, und
drauſsen keinen Platz haben. So wird der Mensch in
seinen eignen Augen ein vorstellendes Wesen; und von
da zu der Bemerkung, daſs unter den Vorstellungen auch
eine des Vorstellenden vorkomme, ist nur noch ein leich-
ter Schritt.
Es möchte nun scheinen, als klebe die Vorstellung
des Ich an dem sinnlichen Raume; allein nichts weniger!
Es giebt eine Menge ähnlicher, nur nicht so ausgebilde-
ter Constructionen, wie der Raum. Sich findet der Bür-
ger mitten in bürgerlichen Verhältnissen; er hat dort ei-
nen Rang und Namen; Sich findet der thätige Mann in
der Mitte andrer Kräfte; der Gelehrte in dem Kreise an-
drer Gelehrten; der sittlich und religiös fühlende Mensch
findet Sich in einer höhern Ordnung der Dinge; aber
hier ist der Platz, den sein, schon sonst bekanntes Ich
darin einnimmt, nicht so leicht zu bestimmen; hier nimmt
die Frage: wer bin ich? eine ernste Bedeutung an; auf
die wir jedoch jetzt nicht eingehn können.
Je nachdem die Reihen von Vorstellungen beschaf-
fen sind, welche im Ich zusammentreffen und sich kreu-
zen; und je nachdem sie in jedem bestimmten Augen-
blick aufgeregt sind: darnach richtet es sich, wie der
Mensch Sich in diesem Augenblick sieht. Wirklich
schwankt das Ich unaufhörlich; es ist bald ein sinnliches,
bald ein vernünftiges, bald stark, bald schwach; es scheint
bald auf der Oberfläche, bald in einer unergründlichen
Tiefe zu liegen. Diese Wechsel erklären sich sämmt-
lich aus der angedeuteten Lehre; und ebenso der son-
derbare Umstand, daſs die gewöhnliche Art zu reden Al-
les dem Ich zueignet, selbst das, was der denkende
Mensch als den eigentlichen Gehalt, das wahre Wesen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herbart, Johann Friedrich: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 1. Königsberg, 1824, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herbart_psychologie01_1824/121>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.