"Geht man in die Wildheit zurück: so fin- det man Grotten und Waldung, und durchge- rißne Felsen, um über Abgründe von Strömen zu gelangen. Dieß hat zwar der sittliche Mensch zuerst nachgebildet, und noch jetzt sind die Spu- ren da unter tausend gemachten Bedürfnissen; wir ahmen die ursprünglichen Formen nach, von Fels und Baum in demselben Gebäude durchaus von Stein. Dieser ist inzwischen ungelenk, und wer ihn allzusehr zu leichtem Holze schnitzelt, beson- ders am Boden, wo er gerade vor Augen liegt, wird abgeschmackt und lächerlich. Holz hat seine natürliche Form in Stamm und Zweigen: woher die Säulen und zum Theil die Gewölbe. Je weniger man von der natürlichen Form abnimmt: desto reiner ihre Schönheit; so übertrift eine Säule immer einen Pilaster. Das meiste aber bezieht sich auf Zweck, und hat mit Nachahmung der Natur wenig zu schaffen. Die Schönheit der Massen muß aus einem glücklichen geheimen Gefühl hervorkommen, das sich an der Harmo-
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„Geht man in die Wildheit zuruͤck: ſo fin- det man Grotten und Waldung, und durchge- rißne Felſen, um uͤber Abgruͤnde von Stroͤmen zu gelangen. Dieß hat zwar der ſittliche Menſch zuerſt nachgebildet, und noch jetzt ſind die Spu- ren da unter tauſend gemachten Beduͤrfniſſen; wir ahmen die urſpruͤnglichen Formen nach, von Fels und Baum in demſelben Gebaͤude durchaus von Stein. Dieſer iſt inzwiſchen ungelenk, und wer ihn allzuſehr zu leichtem Holze ſchnitzelt, beſon- ders am Boden, wo er gerade vor Augen liegt, wird abgeſchmackt und laͤcherlich. Holz hat ſeine natuͤrliche Form in Stamm und Zweigen: woher die Saͤulen und zum Theil die Gewoͤlbe. Je weniger man von der natuͤrlichen Form abnimmt: deſto reiner ihre Schoͤnheit; ſo uͤbertrift eine Saͤule immer einen Pilaſter. Das meiſte aber bezieht ſich auf Zweck, und hat mit Nachahmung der Natur wenig zu ſchaffen. Die Schoͤnheit der Maſſen muß aus einem gluͤcklichen geheimen Gefuͤhl hervorkommen, das ſich an der Harmo-
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„Geht man in die Wildheit zuruͤck: ſo fin-
det man Grotten und Waldung, und durchge-
rißne Felſen, um uͤber Abgruͤnde von Stroͤmen
zu gelangen. Dieß hat zwar der ſittliche Menſch
zuerſt nachgebildet, und noch jetzt ſind die Spu-
ren da unter tauſend gemachten Beduͤrfniſſen; wir
ahmen die urſpruͤnglichen Formen nach, von Fels
und Baum in demſelben Gebaͤude durchaus von
Stein. Dieſer iſt inzwiſchen ungelenk, und wer
ihn allzuſehr zu leichtem Holze ſchnitzelt, beſon-
ders am Boden, wo er gerade vor Augen liegt,
wird abgeſchmackt und laͤcherlich. Holz hat ſeine
natuͤrliche Form in Stamm und Zweigen: woher
die Saͤulen und zum Theil die Gewoͤlbe. Je
weniger man von der natuͤrlichen Form abnimmt:
deſto reiner ihre Schoͤnheit; ſo uͤbertrift eine
Saͤule immer einen Pilaſter. Das meiſte aber
bezieht ſich auf Zweck, und hat mit Nachahmung
der Natur wenig zu ſchaffen. Die Schoͤnheit
der Maſſen muß aus einem gluͤcklichen geheimen
Gefuͤhl hervorkommen, das ſich an der Harmo-
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[Heinse, Wilhelm]: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Bd. 1. Lemgo, 1787, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heinse_ardinghello01_1787/59>, abgerufen am 18.05.2024.
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