Ich zeigte Lucinden erst einige Griffe auf der Laute, alsdenn sangen wir zusammen; und unsre Herzen ergossen sich endlich in einander durch Gespräch und Blicke. "Ein Weib ist doch das armseeligste Ding auf Erden! seufzte sie auf die letzt wehmüthig, nach mancherley Reden über Welt und Daseyn und Bestimmung, und kehrte die Augen von mir ab gen Himmel; gefesselt auf allen Seiten, dürfen wir keinen freyen Schritt thun, wo uns der Geist hinleitet, ohne Schmach und Schande. Nicht über die Straße können wir gehn allein und sonder Mamma und Base, wenn man uns für wohlgebildet hält, ohne daß die Lästerzungen auf uns stechen; Natur und Leben und Sitten und Gebräuche in andern Gegenden zu sehen und zu hören, ist uns gänz- lich versagt: wir müssen auf einer Stelle bleiben, wie die Plaggen, und glauben, was man uns vorlügt, ohne sinnlichen Begriff; Wahn und Traum und Gehorsam unser Eigenthum: kein Tro- pfen Wahrheit die Seele zu erquicken.
"Wenn
Ich zeigte Lucinden erſt einige Griffe auf der Laute, alsdenn ſangen wir zuſammen; und unſre Herzen ergoſſen ſich endlich in einander durch Geſpraͤch und Blicke. “Ein Weib iſt doch das armſeeligſte Ding auf Erden! ſeufzte ſie auf die letzt wehmuͤthig, nach mancherley Reden uͤber Welt und Daſeyn und Beſtimmung, und kehrte die Augen von mir ab gen Himmel; gefeſſelt auf allen Seiten, duͤrfen wir keinen freyen Schritt thun, wo uns der Geiſt hinleitet, ohne Schmach und Schande. Nicht uͤber die Straße koͤnnen wir gehn allein und ſonder Mamma und Baſe, wenn man uns fuͤr wohlgebildet haͤlt, ohne daß die Laͤſterzungen auf uns ſtechen; Natur und Leben und Sitten und Gebraͤuche in andern Gegenden zu ſehen und zu hoͤren, iſt uns gaͤnz- lich verſagt: wir muͤſſen auf einer Stelle bleiben, wie die Plaggen, und glauben, was man uns vorluͤgt, ohne ſinnlichen Begriff; Wahn und Traum und Gehorſam unſer Eigenthum: kein Tro- pfen Wahrheit die Seele zu erquicken.
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Ich zeigte Lucinden erſt einige Griffe auf
der Laute, alsdenn ſangen wir zuſammen; und
unſre Herzen ergoſſen ſich endlich in einander durch
Geſpraͤch und Blicke. “Ein Weib iſt doch das
armſeeligſte Ding auf Erden! ſeufzte ſie auf die letzt
wehmuͤthig, nach mancherley Reden uͤber Welt
und Daſeyn und Beſtimmung, und kehrte die
Augen von mir ab gen Himmel; gefeſſelt auf
allen Seiten, duͤrfen wir keinen freyen Schritt
thun, wo uns der Geiſt hinleitet, ohne
Schmach und Schande. Nicht uͤber die Straße
koͤnnen wir gehn allein und ſonder Mamma und
Baſe, wenn man uns fuͤr wohlgebildet haͤlt,
ohne daß die Laͤſterzungen auf uns ſtechen; Natur
und Leben und Sitten und Gebraͤuche in andern
Gegenden zu ſehen und zu hoͤren, iſt uns gaͤnz-
lich verſagt: wir muͤſſen auf einer Stelle bleiben,
wie die Plaggen, und glauben, was man uns
vorluͤgt, ohne ſinnlichen Begriff; Wahn und
Traum und Gehorſam unſer Eigenthum: kein Tro-
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[Heinse, Wilhelm]: Ardinghello und die glückseeligen Inseln. Bd. 1. Lemgo, 1787, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heinse_ardinghello01_1787/256>, abgerufen am 22.11.2024.
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