Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Heine, Heinrich: Reisebilder. Nachträge. Hamburg, 1831.

Bild:
<< vorherige Seite

Sie schneiden ja ein verbissen gläubiges Gesicht,
theurer Doktor, flüsterte Mylady, ich habe Sie
eben beobachtet, und verzeihen Sie mir, wenn ich
Sie etwa beleidige, Sie sahen aus wie ein guter
Christ.

Unter uns gesagt, das bin ich; ja, Christus --
Glauben Sie vielleicht ebenfalls, daß er ein Gott
sey?

Das versteht sich, meine gute Mathilde. Es
ist der Gott, den ich am meisten liebe -- nicht
weil er so ein legitimer Gott ist, dessen Vater
schon Gott war und seit undenklicher Zeit die
Welt beherrschte: sondern weil er, obgleich ein
geborener Dauphin des Himmels, dennoch, demo¬
kratisch gesinnt, keinen höfischen Ceremonialprunk
liebt, weil er kein Gott einer Aristokratie von
geschorenen Schriftgelehrten und gallonirten Lan¬
zenknechten, und weil er ein bescheidener Gott
des Volks ist, ein Bürger-Gott, un bon dieu
citoyen
. Wahrlich, wenn Christus noch kein

Sie ſchneiden ja ein verbiſſen glaͤubiges Geſicht,
theurer Doktor, fluͤſterte Mylady, ich habe Sie
eben beobachtet, und verzeihen Sie mir, wenn ich
Sie etwa beleidige, Sie ſahen aus wie ein guter
Chriſt.

Unter uns geſagt, das bin ich; ja, Chriſtus —
Glauben Sie vielleicht ebenfalls, daß er ein Gott
ſey?

Das verſteht ſich, meine gute Mathilde. Es
iſt der Gott, den ich am meiſten liebe — nicht
weil er ſo ein legitimer Gott iſt, deſſen Vater
ſchon Gott war und ſeit undenklicher Zeit die
Welt beherrſchte: ſondern weil er, obgleich ein
geborener Dauphin des Himmels, dennoch, demo¬
kratiſch geſinnt, keinen hoͤfiſchen Ceremonialprunk
liebt, weil er kein Gott einer Ariſtokratie von
geſchorenen Schriftgelehrten und gallonirten Lan¬
zenknechten, und weil er ein beſcheidener Gott
des Volks iſt, ein Buͤrger-Gott, un bon dieu
citoyen
. Wahrlich, wenn Chriſtus noch kein

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0074" n="60"/>
          <p>Sie &#x017F;chneiden ja ein verbi&#x017F;&#x017F;en gla&#x0364;ubiges Ge&#x017F;icht,<lb/>
theurer Doktor, flu&#x0364;&#x017F;terte Mylady, ich habe Sie<lb/>
eben beobachtet, und verzeihen Sie mir, wenn ich<lb/>
Sie etwa beleidige, Sie &#x017F;ahen aus wie ein guter<lb/>
Chri&#x017F;t.</p><lb/>
          <p>Unter uns ge&#x017F;agt, das bin ich; ja, Chri&#x017F;tus &#x2014;<lb/>
Glauben Sie vielleicht ebenfalls, daß er ein Gott<lb/>
&#x017F;ey?</p><lb/>
          <p>Das ver&#x017F;teht &#x017F;ich, meine gute Mathilde. Es<lb/>
i&#x017F;t der Gott, den ich am mei&#x017F;ten liebe &#x2014; nicht<lb/>
weil er &#x017F;o ein legitimer Gott i&#x017F;t, de&#x017F;&#x017F;en Vater<lb/>
&#x017F;chon Gott war und &#x017F;eit undenklicher Zeit die<lb/>
Welt beherr&#x017F;chte: &#x017F;ondern weil er, obgleich ein<lb/>
geborener Dauphin des Himmels, dennoch, demo¬<lb/>
krati&#x017F;ch ge&#x017F;innt, keinen ho&#x0364;fi&#x017F;chen Ceremonialprunk<lb/>
liebt, weil er kein Gott einer Ari&#x017F;tokratie von<lb/>
ge&#x017F;chorenen Schriftgelehrten und gallonirten Lan¬<lb/>
zenknechten, und weil er ein be&#x017F;cheidener Gott<lb/>
des Volks i&#x017F;t, ein Bu&#x0364;rger-Gott, <hi rendition="#aq">un bon dieu<lb/>
citoyen</hi>. Wahrlich, wenn Chri&#x017F;tus noch kein<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[60/0074] Sie ſchneiden ja ein verbiſſen glaͤubiges Geſicht, theurer Doktor, fluͤſterte Mylady, ich habe Sie eben beobachtet, und verzeihen Sie mir, wenn ich Sie etwa beleidige, Sie ſahen aus wie ein guter Chriſt. Unter uns geſagt, das bin ich; ja, Chriſtus — Glauben Sie vielleicht ebenfalls, daß er ein Gott ſey? Das verſteht ſich, meine gute Mathilde. Es iſt der Gott, den ich am meiſten liebe — nicht weil er ſo ein legitimer Gott iſt, deſſen Vater ſchon Gott war und ſeit undenklicher Zeit die Welt beherrſchte: ſondern weil er, obgleich ein geborener Dauphin des Himmels, dennoch, demo¬ kratiſch geſinnt, keinen hoͤfiſchen Ceremonialprunk liebt, weil er kein Gott einer Ariſtokratie von geſchorenen Schriftgelehrten und gallonirten Lan¬ zenknechten, und weil er ein beſcheidener Gott des Volks iſt, ein Buͤrger-Gott, un bon dieu citoyen. Wahrlich, wenn Chriſtus noch kein

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder04_1831
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder04_1831/74
Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Nachträge. Hamburg, 1831, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder04_1831/74>, abgerufen am 27.04.2024.