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Heine, Heinrich: Reisebilder. Nachträge. Hamburg, 1831.

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Moder und ängstlich stockender Tod, die Stadt
schien nur das Gespenst einer Stadt, ein steiner¬
ner Spuk am hellen Tage. Da suchte ich lange
vergebens die Spur eines lebendigen Wesens. Ich
erinnere mich nur, vor einem alten Pallazzo lag
ein schlafender Bettler mit ausgestreckt offner
Hand. Auch erinnere ich mich, oben am Fenster
eines schwärzlich morschen Häuslein sah ich einen
Mönch, der den rothen Hals mit dem feisten
Glatzenhaupt recht lang aus der braunen Kutte
hervorreckte, und neben ihm kam ein vollbusig
nacktes Weibsbild zum Vorschein; unten, in die
halb offne Hausthüre sah ich einen kleinen Jungen
hineingehen, der als ein schwarzer Abbate gekleidet
war, und mit beiden Händen eine mächtig gro߬
bäuchige Weinflasche trug. -- In demselben Au¬
genblick läutete unfern ein feines ironisches Glöck¬
lein, und in meinem Gedächtnisse kicherten die
Novellen des Boccaccio. Diese Klänge konnten
aber keineswegs das seltsame Grauen, das meine

Moder und aͤngſtlich ſtockender Tod, die Stadt
ſchien nur das Geſpenſt einer Stadt, ein ſteiner¬
ner Spuk am hellen Tage. Da ſuchte ich lange
vergebens die Spur eines lebendigen Weſens. Ich
erinnere mich nur, vor einem alten Pallazzo lag
ein ſchlafender Bettler mit ausgeſtreckt offner
Hand. Auch erinnere ich mich, oben am Fenſter
eines ſchwaͤrzlich morſchen Haͤuslein ſah ich einen
Moͤnch, der den rothen Hals mit dem feiſten
Glatzenhaupt recht lang aus der braunen Kutte
hervorreckte, und neben ihm kam ein vollbuſig
nacktes Weibsbild zum Vorſchein; unten, in die
halb offne Hausthuͤre ſah ich einen kleinen Jungen
hineingehen, der als ein ſchwarzer Abbate gekleidet
war, und mit beiden Haͤnden eine maͤchtig gro߬
baͤuchige Weinflaſche trug. — In demſelben Au¬
genblick laͤutete unfern ein feines ironiſches Gloͤck¬
lein, und in meinem Gedaͤchtniſſe kicherten die
Novellen des Boccaccio. Dieſe Klaͤnge konnten
aber keineswegs das ſeltſame Grauen, das meine

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[31/0045] Moder und aͤngſtlich ſtockender Tod, die Stadt ſchien nur das Geſpenſt einer Stadt, ein ſteiner¬ ner Spuk am hellen Tage. Da ſuchte ich lange vergebens die Spur eines lebendigen Weſens. Ich erinnere mich nur, vor einem alten Pallazzo lag ein ſchlafender Bettler mit ausgeſtreckt offner Hand. Auch erinnere ich mich, oben am Fenſter eines ſchwaͤrzlich morſchen Haͤuslein ſah ich einen Moͤnch, der den rothen Hals mit dem feiſten Glatzenhaupt recht lang aus der braunen Kutte hervorreckte, und neben ihm kam ein vollbuſig nacktes Weibsbild zum Vorſchein; unten, in die halb offne Hausthuͤre ſah ich einen kleinen Jungen hineingehen, der als ein ſchwarzer Abbate gekleidet war, und mit beiden Haͤnden eine maͤchtig gro߬ baͤuchige Weinflaſche trug. — In demſelben Au¬ genblick laͤutete unfern ein feines ironiſches Gloͤck¬ lein, und in meinem Gedaͤchtniſſe kicherten die Novellen des Boccaccio. Dieſe Klaͤnge konnten aber keineswegs das ſeltſame Grauen, das meine

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Nachträge. Hamburg, 1831, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder04_1831/45>, abgerufen am 21.11.2024.