Weinstock als Stütze diente, so daß es fast schaurig heiter aussah, wie das Leben den Tod, die saftig grünen Reben den blutigen Leib und die gekreuzigten Arme und Beine des Heilands umrankten. Auf der anderen Seite des Häus¬ chens stand ein runder Taubenkofen, dessen gefie¬ dertes Völkchen flog hin und her, und eine ganz besonders anmuthig weiße Taube saß auf dem hübschen Spitzdächlein, das, wie die fromme Steinkrone einer Heiligennische, über dem Haupte der schönen Spinnerin hervorragte. Diese saß auf der kleinen Gallerie und spann, nicht nach der deutschen Spinnradmethode, sondern nach jener uralten Weise, wo ein flachsumzogener Wocken unter dem Arme gehalten wird, und der abgesponnene Faden an der freihängenden Spin¬ del hinunterläuft. So spannen die Königstöchter in Griechenland, so spinnen noch jetzt die Parzen und alle Italienerinnen. Sie spann und lächelte, unbeweglich saß die Taube über ihrem Haupte,
Weinſtock als Stuͤtze diente, ſo daß es faſt ſchaurig heiter ausſah, wie das Leben den Tod, die ſaftig gruͤnen Reben den blutigen Leib und die gekreuzigten Arme und Beine des Heilands umrankten. Auf der anderen Seite des Haͤus¬ chens ſtand ein runder Taubenkofen, deſſen gefie¬ dertes Voͤlkchen flog hin und her, und eine ganz beſonders anmuthig weiße Taube ſaß auf dem huͤbſchen Spitzdaͤchlein, das, wie die fromme Steinkrone einer Heiligenniſche, uͤber dem Haupte der ſchoͤnen Spinnerin hervorragte. Dieſe ſaß auf der kleinen Gallerie und ſpann, nicht nach der deutſchen Spinnradmethode, ſondern nach jener uralten Weiſe, wo ein flachsumzogener Wocken unter dem Arme gehalten wird, und der abgeſponnene Faden an der freihaͤngenden Spin¬ del hinunterlaͤuft. So ſpannen die Koͤnigstoͤchter in Griechenland, ſo ſpinnen noch jetzt die Parzen und alle Italienerinnen. Sie ſpann und laͤchelte, unbeweglich ſaß die Taube uͤber ihrem Haupte,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0090"n="82"/>
Weinſtock als Stuͤtze diente, ſo daß es faſt<lb/>ſchaurig heiter ausſah, wie das Leben den Tod,<lb/>
die ſaftig gruͤnen Reben den blutigen Leib und<lb/>
die gekreuzigten Arme und Beine des Heilands<lb/>
umrankten. Auf der anderen Seite des Haͤus¬<lb/>
chens ſtand ein runder Taubenkofen, deſſen gefie¬<lb/>
dertes Voͤlkchen flog hin und her, und eine ganz<lb/>
beſonders anmuthig weiße Taube ſaß auf dem<lb/>
huͤbſchen Spitzdaͤchlein, das, wie die fromme<lb/>
Steinkrone einer Heiligenniſche, uͤber dem Haupte<lb/>
der ſchoͤnen Spinnerin hervorragte. Dieſe ſaß<lb/>
auf der kleinen Gallerie und ſpann, nicht nach<lb/>
der deutſchen Spinnradmethode, ſondern nach<lb/>
jener uralten Weiſe, wo ein flachsumzogener<lb/>
Wocken unter dem Arme gehalten wird, und der<lb/>
abgeſponnene Faden an der freihaͤngenden Spin¬<lb/>
del hinunterlaͤuft. So ſpannen die Koͤnigstoͤchter<lb/>
in Griechenland, ſo ſpinnen noch jetzt die Parzen<lb/>
und alle Italienerinnen. Sie ſpann und laͤchelte,<lb/>
unbeweglich ſaß die Taube uͤber ihrem Haupte,<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[82/0090]
Weinſtock als Stuͤtze diente, ſo daß es faſt
ſchaurig heiter ausſah, wie das Leben den Tod,
die ſaftig gruͤnen Reben den blutigen Leib und
die gekreuzigten Arme und Beine des Heilands
umrankten. Auf der anderen Seite des Haͤus¬
chens ſtand ein runder Taubenkofen, deſſen gefie¬
dertes Voͤlkchen flog hin und her, und eine ganz
beſonders anmuthig weiße Taube ſaß auf dem
huͤbſchen Spitzdaͤchlein, das, wie die fromme
Steinkrone einer Heiligenniſche, uͤber dem Haupte
der ſchoͤnen Spinnerin hervorragte. Dieſe ſaß
auf der kleinen Gallerie und ſpann, nicht nach
der deutſchen Spinnradmethode, ſondern nach
jener uralten Weiſe, wo ein flachsumzogener
Wocken unter dem Arme gehalten wird, und der
abgeſponnene Faden an der freihaͤngenden Spin¬
del hinunterlaͤuft. So ſpannen die Koͤnigstoͤchter
in Griechenland, ſo ſpinnen noch jetzt die Parzen
und alle Italienerinnen. Sie ſpann und laͤchelte,
unbeweglich ſaß die Taube uͤber ihrem Haupte,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 3. Hamburg, 1830, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder03_1830/90>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.