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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 2. Hamburg, 1827.

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durch gegründet ward und das Leben warm-in¬
niger blühte, und die Künste, wie still hervorge¬
wachsene Blumen, jene Herrlichkeit entfalteten,
die wir noch jetzt anstaunen, und mit all un¬
serem hastigen Wissen nicht nachahmen können.
Aber der Geist hat seine ewigen Rechte, er läßt
sich nicht eindämmen durch Satzungen und nicht
einlullen durch Glockengeläute; er zerbrach seinen
Kerker und zerriß das eiserne Gängelband, woran
ihn die Mutterkirche leitete, und er jagte im
Befreyungstaumel über die ganze Erde, erstieg
die höchsten Gipfel der Berge, jauchzte vor Ue¬
bermuth, gedachte wieder uralter Zweifel, grü¬
belte über die Wunder des Tages, und zählte
die Sterne der Nacht. Wir kennen noch nicht
die Zahl der Sterne, die Wunder des Tages
haben wir noch nicht enträthselt, die alten Zwei¬
fel sind mächtig geworden in unserer Seele --
ist jetzt mehr Glück darin als ehemals? Wir
wissen, daß diese Frage, wenn sie den großen Hau¬
fen betrifft, nicht leicht bejaht werden kann; aber

durch gegruͤndet ward und das Leben warm-in¬
niger bluͤhte, und die Kuͤnſte, wie ſtill hervorge¬
wachſene Blumen, jene Herrlichkeit entfalteten,
die wir noch jetzt anſtaunen, und mit all un¬
ſerem haſtigen Wiſſen nicht nachahmen koͤnnen.
Aber der Geiſt hat ſeine ewigen Rechte, er laͤßt
ſich nicht eindaͤmmen durch Satzungen und nicht
einlullen durch Glockengelaͤute; er zerbrach ſeinen
Kerker und zerriß das eiſerne Gaͤngelband, woran
ihn die Mutterkirche leitete, und er jagte im
Befreyungstaumel uͤber die ganze Erde, erſtieg
die hoͤchſten Gipfel der Berge, jauchzte vor Ue¬
bermuth, gedachte wieder uralter Zweifel, gruͤ¬
belte uͤber die Wunder des Tages, und zaͤhlte
die Sterne der Nacht. Wir kennen noch nicht
die Zahl der Sterne, die Wunder des Tages
haben wir noch nicht entraͤthſelt, die alten Zwei¬
fel ſind maͤchtig geworden in unſerer Seele —
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[47/0055] durch gegruͤndet ward und das Leben warm-in¬ niger bluͤhte, und die Kuͤnſte, wie ſtill hervorge¬ wachſene Blumen, jene Herrlichkeit entfalteten, die wir noch jetzt anſtaunen, und mit all un¬ ſerem haſtigen Wiſſen nicht nachahmen koͤnnen. Aber der Geiſt hat ſeine ewigen Rechte, er laͤßt ſich nicht eindaͤmmen durch Satzungen und nicht einlullen durch Glockengelaͤute; er zerbrach ſeinen Kerker und zerriß das eiſerne Gaͤngelband, woran ihn die Mutterkirche leitete, und er jagte im Befreyungstaumel uͤber die ganze Erde, erſtieg die hoͤchſten Gipfel der Berge, jauchzte vor Ue¬ bermuth, gedachte wieder uralter Zweifel, gruͤ¬ belte uͤber die Wunder des Tages, und zaͤhlte die Sterne der Nacht. Wir kennen noch nicht die Zahl der Sterne, die Wunder des Tages haben wir noch nicht entraͤthſelt, die alten Zwei¬ fel ſind maͤchtig geworden in unſerer Seele — iſt jetzt mehr Gluͤck darin als ehemals? Wir wiſſen, daß dieſe Frage, wenn ſie den großen Hau¬ fen betrifft, nicht leicht bejaht werden kann; aber

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 2. Hamburg, 1827, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder02_1827/55>, abgerufen am 30.04.2024.