Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 2. Hamburg, 1827.

Bild:
<< vorherige Seite

Zeit ihres Lebens. Jeder Augenblick ist mir ja
eine Unendlichkeit; ich messe nicht die Zeit mit
der brabanter, oder mit der kleinen hamburger
Elle, und ich brauche mir von keinem Priester
ein zweites Leben versprechen zu lassen, da ich
schon in diesem Leben genug erleben kann, wenn
ich rückwärts lebe, im Leben der Vorfahren,
und mir die Ewigkeit erobere im Reiche der
Vergangenheit.

Und ich lebe! Der große Pulsschlag der
Natur bebt auch in meiner Brust, und wenn ich
jauchze, antwortet mir ein tausendfältiges Echo.
Ich höre tausend Nachtigallen. Der Frühling
hat sie gesendet, die Erde aus ihrem Morgen¬
schlummer zu wecken, und die Erde schauert vor
Entzücken, ihre Blumen sind die Hymnen, die
sie in Begeisterung der Sonne entgegensingt --
die Sonne bewegt sich viel zu langsam, ich
möchte ihre Feuerrosse peitschen, damit sie schneller
dahinjagen -- Aber wenn sie zischend in's Meer

Zeit ihres Lebens. Jeder Augenblick iſt mir ja
eine Unendlichkeit; ich meſſe nicht die Zeit mit
der brabanter, oder mit der kleinen hamburger
Elle, und ich brauche mir von keinem Prieſter
ein zweites Leben verſprechen zu laſſen, da ich
ſchon in dieſem Leben genug erleben kann, wenn
ich ruͤckwaͤrts lebe, im Leben der Vorfahren,
und mir die Ewigkeit erobere im Reiche der
Vergangenheit.

Und ich lebe! Der große Pulsſchlag der
Natur bebt auch in meiner Bruſt, und wenn ich
jauchze, antwortet mir ein tauſendfaͤltiges Echo.
Ich hoͤre tauſend Nachtigallen. Der Fruͤhling
hat ſie geſendet, die Erde aus ihrem Morgen¬
ſchlummer zu wecken, und die Erde ſchauert vor
Entzuͤcken, ihre Blumen ſind die Hymnen, die
ſie in Begeiſterung der Sonne entgegenſingt —
die Sonne bewegt ſich viel zu langſam, ich
moͤchte ihre Feuerroſſe peitſchen, damit ſie ſchneller
dahinjagen — Aber wenn ſie ziſchend in's Meer

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0158" n="150"/>
Zeit ihres Lebens. Jeder Augenblick i&#x017F;t mir ja<lb/>
eine Unendlichkeit; ich me&#x017F;&#x017F;e nicht die Zeit mit<lb/>
der brabanter, oder mit der kleinen hamburger<lb/>
Elle, und ich brauche mir von keinem Prie&#x017F;ter<lb/>
ein zweites Leben ver&#x017F;prechen zu la&#x017F;&#x017F;en, da ich<lb/>
&#x017F;chon in die&#x017F;em Leben genug erleben kann, wenn<lb/>
ich ru&#x0364;ckwa&#x0364;rts lebe, im Leben der Vorfahren,<lb/>
und mir die Ewigkeit erobere im Reiche der<lb/>
Vergangenheit.</p><lb/>
          <p>Und ich lebe! Der große Puls&#x017F;chlag der<lb/>
Natur bebt auch in meiner Bru&#x017F;t, und wenn ich<lb/>
jauchze, antwortet mir ein tau&#x017F;endfa&#x0364;ltiges Echo.<lb/>
Ich ho&#x0364;re tau&#x017F;end Nachtigallen. Der Fru&#x0364;hling<lb/>
hat &#x017F;ie ge&#x017F;endet, die Erde aus ihrem Morgen¬<lb/>
&#x017F;chlummer zu wecken, und die Erde &#x017F;chauert vor<lb/>
Entzu&#x0364;cken, ihre Blumen &#x017F;ind die Hymnen, die<lb/>
&#x017F;ie in Begei&#x017F;terung der Sonne entgegen&#x017F;ingt &#x2014;<lb/>
die Sonne bewegt &#x017F;ich viel zu lang&#x017F;am, ich<lb/>
mo&#x0364;chte ihre Feuerro&#x017F;&#x017F;e peit&#x017F;chen, damit &#x017F;ie &#x017F;chneller<lb/>
dahinjagen &#x2014; Aber wenn &#x017F;ie zi&#x017F;chend in's Meer<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[150/0158] Zeit ihres Lebens. Jeder Augenblick iſt mir ja eine Unendlichkeit; ich meſſe nicht die Zeit mit der brabanter, oder mit der kleinen hamburger Elle, und ich brauche mir von keinem Prieſter ein zweites Leben verſprechen zu laſſen, da ich ſchon in dieſem Leben genug erleben kann, wenn ich ruͤckwaͤrts lebe, im Leben der Vorfahren, und mir die Ewigkeit erobere im Reiche der Vergangenheit. Und ich lebe! Der große Pulsſchlag der Natur bebt auch in meiner Bruſt, und wenn ich jauchze, antwortet mir ein tauſendfaͤltiges Echo. Ich hoͤre tauſend Nachtigallen. Der Fruͤhling hat ſie geſendet, die Erde aus ihrem Morgen¬ ſchlummer zu wecken, und die Erde ſchauert vor Entzuͤcken, ihre Blumen ſind die Hymnen, die ſie in Begeiſterung der Sonne entgegenſingt — die Sonne bewegt ſich viel zu langſam, ich moͤchte ihre Feuerroſſe peitſchen, damit ſie ſchneller dahinjagen — Aber wenn ſie ziſchend in's Meer

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder02_1827
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder02_1827/158
Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 2. Hamburg, 1827, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder02_1827/158>, abgerufen am 22.11.2024.