Die meisten Menschen benutzen bey solcher Ge¬ legenheit das hamletische "Seyn oder Nichtseyn." Es ist eine gute Stelle und ich hätte sie hier auch gern zitirt -- aber, jeder ist sich selbst der nächste, und hat man, wie ich, ebenfalls Tra¬ gödien geschrieben, worin solche Lebensabiturien¬ ten-Reden enthalten sind, z.B. den unsterblichen "Almansor", so ist es sehr natürlich, daß man seinen eignen Worten, sogar vor den Shakespear¬ schen, den Vorzug giebt. Auf jeden Fall sind solche Reden ein sehr nützlicher Brauch; man gewinnt dadurch wenigstens Zeit -- Und so ge¬ schah es, daß ich an der Ecke der Strada di San Giovanni etwas lange stehen blieb -- und als ich da stand, ein Verurtheilter, der dem Tode geweiht war, da erblickte ich plötzlich Sie!
Sie trug ihr blauseidnes Kleid, und den rosa¬ rothen Hut, und ihr Auge sah mich an so mild, so todtbesiegend, so lebenschenkend -- Madame, Sie wissen wohl aus der römischen Geschichte,
Die meiſten Menſchen benutzen bey ſolcher Ge¬ legenheit das hamletiſche „Seyn oder Nichtſeyn.“ Es iſt eine gute Stelle und ich haͤtte ſie hier auch gern zitirt — aber, jeder iſt ſich ſelbſt der naͤchſte, und hat man, wie ich, ebenfalls Tra¬ goͤdien geſchrieben, worin ſolche Lebensabiturien¬ ten-Reden enthalten ſind, z.B. den unſterblichen „Almanſor“, ſo iſt es ſehr natuͤrlich, daß man ſeinen eignen Worten, ſogar vor den Shakespear¬ ſchen, den Vorzug giebt. Auf jeden Fall ſind ſolche Reden ein ſehr nuͤtzlicher Brauch; man gewinnt dadurch wenigſtens Zeit — Und ſo ge¬ ſchah es, daß ich an der Ecke der Strada di San Giovanni etwas lange ſtehen blieb — und als ich da ſtand, ein Verurtheilter, der dem Tode geweiht war, da erblickte ich ploͤtzlich Sie!
Sie trug ihr blauſeidnes Kleid, und den roſa¬ rothen Hut, und ihr Auge ſah mich an ſo mild, ſo todtbeſiegend, ſo lebenſchenkend — Madame, Sie wiſſen wohl aus der roͤmiſchen Geſchichte,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0152"n="144"/><p>Die meiſten Menſchen benutzen bey ſolcher Ge¬<lb/>
legenheit das hamletiſche „Seyn oder Nichtſeyn.“<lb/>
Es iſt eine gute Stelle und ich haͤtte ſie hier<lb/>
auch gern zitirt — aber, jeder iſt ſich ſelbſt der<lb/>
naͤchſte, und hat man, wie ich, ebenfalls Tra¬<lb/>
goͤdien geſchrieben, worin ſolche Lebensabiturien¬<lb/>
ten-Reden enthalten ſind, z.B. den unſterblichen<lb/>„Almanſor“, ſo iſt es ſehr natuͤrlich, daß man<lb/>ſeinen eignen Worten, ſogar vor den Shakespear¬<lb/>ſchen, den Vorzug giebt. Auf jeden Fall ſind<lb/>ſolche Reden ein ſehr nuͤtzlicher Brauch; man<lb/>
gewinnt dadurch wenigſtens Zeit — Und ſo ge¬<lb/>ſchah es, daß ich an der Ecke der Strada di<lb/>
San Giovanni etwas lange ſtehen blieb — und<lb/>
als ich da ſtand, ein Verurtheilter, der dem Tode<lb/>
geweiht war, da erblickte ich ploͤtzlich Sie!</p><lb/><p>Sie trug ihr blauſeidnes Kleid, und den roſa¬<lb/>
rothen Hut, und ihr Auge ſah mich an ſo mild,<lb/>ſo todtbeſiegend, ſo lebenſchenkend — Madame,<lb/>
Sie wiſſen wohl aus der roͤmiſchen Geſchichte,<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[144/0152]
Die meiſten Menſchen benutzen bey ſolcher Ge¬
legenheit das hamletiſche „Seyn oder Nichtſeyn.“
Es iſt eine gute Stelle und ich haͤtte ſie hier
auch gern zitirt — aber, jeder iſt ſich ſelbſt der
naͤchſte, und hat man, wie ich, ebenfalls Tra¬
goͤdien geſchrieben, worin ſolche Lebensabiturien¬
ten-Reden enthalten ſind, z.B. den unſterblichen
„Almanſor“, ſo iſt es ſehr natuͤrlich, daß man
ſeinen eignen Worten, ſogar vor den Shakespear¬
ſchen, den Vorzug giebt. Auf jeden Fall ſind
ſolche Reden ein ſehr nuͤtzlicher Brauch; man
gewinnt dadurch wenigſtens Zeit — Und ſo ge¬
ſchah es, daß ich an der Ecke der Strada di
San Giovanni etwas lange ſtehen blieb — und
als ich da ſtand, ein Verurtheilter, der dem Tode
geweiht war, da erblickte ich ploͤtzlich Sie!
Sie trug ihr blauſeidnes Kleid, und den roſa¬
rothen Hut, und ihr Auge ſah mich an ſo mild,
ſo todtbeſiegend, ſo lebenſchenkend — Madame,
Sie wiſſen wohl aus der roͤmiſchen Geſchichte,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 2. Hamburg, 1827, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder02_1827/152>, abgerufen am 26.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.