mein Vorurtheil aussprach. "Vorurtheil" ist hier der umfassendste Ausdruck. Nur eins läßt sich mit Bestimmtheit sagen: das Buch wird ge¬ lesen werden vom Aufgang bis zum Niedergang, und wir Deutschen werden es übersetzen.
Wir haben auch den Segür übersetzt. Nicht wahr, es ist ein hübsches episches Gedicht? Wir Deutschen schreiben auch epische Gedichte, aber die Helden derselben existiren bloß in unse¬ rem Kopfe. Hingegen die Helden des französi¬ schen Epos sind wirkliche Helden, die viel größere Thaten vollbracht, und viel größere Leiden ge¬ litten, als wir in unseren Dachstübchen ersinnen können. Und wir haben doch viel Phantasie, und die Franzosen haben nur wenig. Vielleicht hat deshalb der liebe Gott den Franzosen auf eine andere Art nachgeholfen, und sie brauchen nur treu zu erzählen, was sie in den letzten dreyzig Jahren gesehen und gethan, und sie haben eine erlebte Literatur, wie noch kein Volk und keine Zeit sie hervorgebracht. Diese Memoiren
mein Vorurtheil ausſprach. “Vorurtheil” iſt hier der umfaſſendſte Ausdruck. Nur eins laͤßt ſich mit Beſtimmtheit ſagen: das Buch wird ge¬ leſen werden vom Aufgang bis zum Niedergang, und wir Deutſchen werden es uͤberſetzen.
Wir haben auch den Seguͤr uͤberſetzt. Nicht wahr, es iſt ein huͤbſches epiſches Gedicht? Wir Deutſchen ſchreiben auch epiſche Gedichte, aber die Helden derſelben exiſtiren bloß in unſe¬ rem Kopfe. Hingegen die Helden des franzoͤſi¬ ſchen Epos ſind wirkliche Helden, die viel groͤßere Thaten vollbracht, und viel groͤßere Leiden ge¬ litten, als wir in unſeren Dachſtuͤbchen erſinnen koͤnnen. Und wir haben doch viel Phantaſie, und die Franzoſen haben nur wenig. Vielleicht hat deshalb der liebe Gott den Franzoſen auf eine andere Art nachgeholfen, und ſie brauchen nur treu zu erzaͤhlen, was ſie in den letzten dreyzig Jahren geſehen und gethan, und ſie haben eine erlebte Literatur, wie noch kein Volk und keine Zeit ſie hervorgebracht. Dieſe Memoiren
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0113"n="105"/>
mein Vorurtheil ausſprach. “Vorurtheil” iſt<lb/>
hier der umfaſſendſte Ausdruck. Nur eins laͤßt<lb/>ſich mit Beſtimmtheit ſagen: das Buch wird ge¬<lb/>
leſen werden vom Aufgang bis zum Niedergang,<lb/>
und wir Deutſchen werden es uͤberſetzen.</p><lb/><p>Wir haben auch den Seguͤr uͤberſetzt. Nicht<lb/>
wahr, es iſt ein huͤbſches epiſches Gedicht?<lb/>
Wir Deutſchen ſchreiben auch epiſche Gedichte,<lb/>
aber die Helden derſelben exiſtiren bloß in unſe¬<lb/>
rem Kopfe. Hingegen die Helden des franzoͤſi¬<lb/>ſchen Epos ſind wirkliche Helden, die viel groͤßere<lb/>
Thaten vollbracht, und viel groͤßere Leiden ge¬<lb/>
litten, als wir in unſeren Dachſtuͤbchen erſinnen<lb/>
koͤnnen. Und wir haben doch viel Phantaſie,<lb/>
und die Franzoſen haben nur wenig. Vielleicht<lb/>
hat deshalb der liebe Gott den Franzoſen auf<lb/>
eine andere Art nachgeholfen, und ſie brauchen<lb/>
nur treu zu erzaͤhlen, was ſie in den letzten<lb/>
dreyzig Jahren geſehen und gethan, und ſie haben<lb/>
eine erlebte Literatur, wie noch kein Volk und<lb/>
keine Zeit ſie hervorgebracht. Dieſe Memoiren<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[105/0113]
mein Vorurtheil ausſprach. “Vorurtheil” iſt
hier der umfaſſendſte Ausdruck. Nur eins laͤßt
ſich mit Beſtimmtheit ſagen: das Buch wird ge¬
leſen werden vom Aufgang bis zum Niedergang,
und wir Deutſchen werden es uͤberſetzen.
Wir haben auch den Seguͤr uͤberſetzt. Nicht
wahr, es iſt ein huͤbſches epiſches Gedicht?
Wir Deutſchen ſchreiben auch epiſche Gedichte,
aber die Helden derſelben exiſtiren bloß in unſe¬
rem Kopfe. Hingegen die Helden des franzoͤſi¬
ſchen Epos ſind wirkliche Helden, die viel groͤßere
Thaten vollbracht, und viel groͤßere Leiden ge¬
litten, als wir in unſeren Dachſtuͤbchen erſinnen
koͤnnen. Und wir haben doch viel Phantaſie,
und die Franzoſen haben nur wenig. Vielleicht
hat deshalb der liebe Gott den Franzoſen auf
eine andere Art nachgeholfen, und ſie brauchen
nur treu zu erzaͤhlen, was ſie in den letzten
dreyzig Jahren geſehen und gethan, und ſie haben
eine erlebte Literatur, wie noch kein Volk und
keine Zeit ſie hervorgebracht. Dieſe Memoiren
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 2. Hamburg, 1827, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder02_1827/113>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.