in heiligen Stunden treten sie, wie Nebelgebilde vor unsere Seele; aber ein ebenfalls großer Mann sieht seine Vorgänger weit deutlicher, aus einzel¬ nen Funken ihrer irdischen Lichtspur erkennt er ihr geheimstes Thun, aus einem einzigen hinter¬ lassenen Worte erkennt er alle Falten ihres Her¬ zens; und solchermaßen, in einer mystischen Ge¬ meinschaft, leben die großen Männer aller Zeiten, über die Jahrtausende hinweg nicken sie einander zu, und sehen sich an bedeutungsvoll, und ihre Blicke begegnen sich auf den Gräbern unterge¬ gangener Geschlechter, die sich zwischen sie ge¬ drängt hatten, und sie verstehen sich und haben sich lieb. Wir Kleinen aber, die wir nicht so intimen Umgang pflegen können mit den Großen der Vergangenheit, wovon wir nur selten die Spur und Nebelformen sehen, für uns ist es vom höchsten Werthe, wenn wir über einen solchen Großen so viel erfahren, daß es uns leicht wird, ihn ganz lebensklar in unsre Seele aufzunehmen, und dadurch unsre Seele zu erweitern. Ein sol¬
in heiligen Stunden treten ſie, wie Nebelgebilde vor unſere Seele; aber ein ebenfalls großer Mann ſieht ſeine Vorgaͤnger weit deutlicher, aus einzel¬ nen Funken ihrer irdiſchen Lichtſpur erkennt er ihr geheimſtes Thun, aus einem einzigen hinter¬ laſſenen Worte erkennt er alle Falten ihres Her¬ zens; und ſolchermaßen, in einer myſtiſchen Ge¬ meinſchaft, leben die großen Maͤnner aller Zeiten, uͤber die Jahrtauſende hinweg nicken ſie einander zu, und ſehen ſich an bedeutungsvoll, und ihre Blicke begegnen ſich auf den Graͤbern unterge¬ gangener Geſchlechter, die ſich zwiſchen ſie ge¬ draͤngt hatten, und ſie verſtehen ſich und haben ſich lieb. Wir Kleinen aber, die wir nicht ſo intimen Umgang pflegen koͤnnen mit den Großen der Vergangenheit, wovon wir nur ſelten die Spur und Nebelformen ſehen, fuͤr uns iſt es vom hoͤchſten Werthe, wenn wir uͤber einen ſolchen Großen ſo viel erfahren, daß es uns leicht wird, ihn ganz lebensklar in unſre Seele aufzunehmen, und dadurch unſre Seele zu erweitern. Ein ſol¬
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in heiligen Stunden treten ſie, wie Nebelgebilde
vor unſere Seele; aber ein ebenfalls großer Mann
ſieht ſeine Vorgaͤnger weit deutlicher, aus einzel¬
nen Funken ihrer irdiſchen Lichtſpur erkennt er
ihr geheimſtes Thun, aus einem einzigen hinter¬
laſſenen Worte erkennt er alle Falten ihres Her¬
zens; und ſolchermaßen, in einer myſtiſchen Ge¬
meinſchaft, leben die großen Maͤnner aller Zeiten,
uͤber die Jahrtauſende hinweg nicken ſie einander
zu, und ſehen ſich an bedeutungsvoll, und ihre
Blicke begegnen ſich auf den Graͤbern unterge¬
gangener Geſchlechter, die ſich zwiſchen ſie ge¬
draͤngt hatten, und ſie verſtehen ſich und haben
ſich lieb. Wir Kleinen aber, die wir nicht ſo
intimen Umgang pflegen koͤnnen mit den Großen
der Vergangenheit, wovon wir nur ſelten die
Spur und Nebelformen ſehen, fuͤr uns iſt es vom
hoͤchſten Werthe, wenn wir uͤber einen ſolchen
Großen ſo viel erfahren, daß es uns leicht wird,
ihn ganz lebensklar in unſre Seele aufzunehmen,
und dadurch unſre Seele zu erweitern. Ein ſol¬
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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 2. Hamburg, 1827, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder02_1827/103>, abgerufen am 22.11.2024.
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