Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 2. Hamburg, 1827.

Bild:
<< vorherige Seite

in heiligen Stunden treten sie, wie Nebelgebilde
vor unsere Seele; aber ein ebenfalls großer Mann
sieht seine Vorgänger weit deutlicher, aus einzel¬
nen Funken ihrer irdischen Lichtspur erkennt er
ihr geheimstes Thun, aus einem einzigen hinter¬
lassenen Worte erkennt er alle Falten ihres Her¬
zens; und solchermaßen, in einer mystischen Ge¬
meinschaft, leben die großen Männer aller Zeiten,
über die Jahrtausende hinweg nicken sie einander
zu, und sehen sich an bedeutungsvoll, und ihre
Blicke begegnen sich auf den Gräbern unterge¬
gangener Geschlechter, die sich zwischen sie ge¬
drängt hatten, und sie verstehen sich und haben
sich lieb. Wir Kleinen aber, die wir nicht so
intimen Umgang pflegen können mit den Großen
der Vergangenheit, wovon wir nur selten die
Spur und Nebelformen sehen, für uns ist es vom
höchsten Werthe, wenn wir über einen solchen
Großen so viel erfahren, daß es uns leicht wird,
ihn ganz lebensklar in unsre Seele aufzunehmen,
und dadurch unsre Seele zu erweitern. Ein sol¬

in heiligen Stunden treten ſie, wie Nebelgebilde
vor unſere Seele; aber ein ebenfalls großer Mann
ſieht ſeine Vorgaͤnger weit deutlicher, aus einzel¬
nen Funken ihrer irdiſchen Lichtſpur erkennt er
ihr geheimſtes Thun, aus einem einzigen hinter¬
laſſenen Worte erkennt er alle Falten ihres Her¬
zens; und ſolchermaßen, in einer myſtiſchen Ge¬
meinſchaft, leben die großen Maͤnner aller Zeiten,
uͤber die Jahrtauſende hinweg nicken ſie einander
zu, und ſehen ſich an bedeutungsvoll, und ihre
Blicke begegnen ſich auf den Graͤbern unterge¬
gangener Geſchlechter, die ſich zwiſchen ſie ge¬
draͤngt hatten, und ſie verſtehen ſich und haben
ſich lieb. Wir Kleinen aber, die wir nicht ſo
intimen Umgang pflegen koͤnnen mit den Großen
der Vergangenheit, wovon wir nur ſelten die
Spur und Nebelformen ſehen, fuͤr uns iſt es vom
hoͤchſten Werthe, wenn wir uͤber einen ſolchen
Großen ſo viel erfahren, daß es uns leicht wird,
ihn ganz lebensklar in unſre Seele aufzunehmen,
und dadurch unſre Seele zu erweitern. Ein ſol¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0103" n="95"/>
in heiligen Stunden treten &#x017F;ie, wie Nebelgebilde<lb/>
vor un&#x017F;ere Seele; aber ein ebenfalls großer Mann<lb/>
&#x017F;ieht &#x017F;eine Vorga&#x0364;nger weit deutlicher, aus einzel¬<lb/>
nen Funken ihrer irdi&#x017F;chen Licht&#x017F;pur erkennt er<lb/>
ihr geheim&#x017F;tes Thun, aus einem einzigen hinter¬<lb/>
la&#x017F;&#x017F;enen Worte erkennt er alle Falten ihres Her¬<lb/>
zens; und &#x017F;olchermaßen, in einer my&#x017F;ti&#x017F;chen Ge¬<lb/>
mein&#x017F;chaft, leben die großen Ma&#x0364;nner aller Zeiten,<lb/>
u&#x0364;ber die Jahrtau&#x017F;ende hinweg nicken &#x017F;ie einander<lb/>
zu, und &#x017F;ehen &#x017F;ich an bedeutungsvoll, und ihre<lb/>
Blicke begegnen &#x017F;ich auf den Gra&#x0364;bern unterge¬<lb/>
gangener Ge&#x017F;chlechter, die &#x017F;ich zwi&#x017F;chen &#x017F;ie ge¬<lb/>
dra&#x0364;ngt hatten, und &#x017F;ie ver&#x017F;tehen &#x017F;ich und haben<lb/>
&#x017F;ich lieb. Wir Kleinen aber, die wir nicht &#x017F;o<lb/>
intimen Umgang pflegen ko&#x0364;nnen mit den Großen<lb/>
der Vergangenheit, wovon wir nur &#x017F;elten die<lb/>
Spur und Nebelformen &#x017F;ehen, fu&#x0364;r uns i&#x017F;t es vom<lb/>
ho&#x0364;ch&#x017F;ten Werthe, wenn wir u&#x0364;ber einen &#x017F;olchen<lb/>
Großen &#x017F;o viel erfahren, daß es uns leicht wird,<lb/>
ihn ganz lebensklar in un&#x017F;re Seele aufzunehmen,<lb/>
und dadurch un&#x017F;re Seele zu erweitern. Ein &#x017F;ol¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[95/0103] in heiligen Stunden treten ſie, wie Nebelgebilde vor unſere Seele; aber ein ebenfalls großer Mann ſieht ſeine Vorgaͤnger weit deutlicher, aus einzel¬ nen Funken ihrer irdiſchen Lichtſpur erkennt er ihr geheimſtes Thun, aus einem einzigen hinter¬ laſſenen Worte erkennt er alle Falten ihres Her¬ zens; und ſolchermaßen, in einer myſtiſchen Ge¬ meinſchaft, leben die großen Maͤnner aller Zeiten, uͤber die Jahrtauſende hinweg nicken ſie einander zu, und ſehen ſich an bedeutungsvoll, und ihre Blicke begegnen ſich auf den Graͤbern unterge¬ gangener Geſchlechter, die ſich zwiſchen ſie ge¬ draͤngt hatten, und ſie verſtehen ſich und haben ſich lieb. Wir Kleinen aber, die wir nicht ſo intimen Umgang pflegen koͤnnen mit den Großen der Vergangenheit, wovon wir nur ſelten die Spur und Nebelformen ſehen, fuͤr uns iſt es vom hoͤchſten Werthe, wenn wir uͤber einen ſolchen Großen ſo viel erfahren, daß es uns leicht wird, ihn ganz lebensklar in unſre Seele aufzunehmen, und dadurch unſre Seele zu erweitern. Ein ſol¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder02_1827
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder02_1827/103
Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 2. Hamburg, 1827, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder02_1827/103>, abgerufen am 01.05.2024.