wir wissen auch, daß ein Glück, das wir der Lüge verdanken, kein wahres Glück ist, und daß wir, in den einzelnen zerrissenen Momenten eines gottgleicheren Zustandes, einer höheren Geisteswürde, mehr Glück empfinden können, als in den lang hinvegetirten Jahren eines dumpfen Köhlerglaubens.
Auf jeden Fall war jene Kirchenherrschaft eine Unterjochung der schlimmsten Art. Wer bürgte uns für die gute Absicht, wie ich sie eben ausgesprochen? Wer kann beweisen, daß sich nicht zuweilen eine schlimme Absicht beymischte? Rom wollte immer herrschen, und als seine Le¬ gionen fielen, sandte es Dogmen in die Provin¬ zen. Wie eine Riesenspinne saß Rom im Mit¬ telpunkte der lateinischen Welt und überzog sie mit seinem unendlichen Gewebe. Generationen der Völker lebten darunter ein beruhigtes Leben, indem sie das für einen nahen Himmel hielten, was bloß römisches Gewebe war; nur der hö¬ herstrebende Geist, der dieses Gewebe durch¬
wir wiſſen auch, daß ein Gluͤck, das wir der Luͤge verdanken, kein wahres Gluͤck iſt, und daß wir, in den einzelnen zerriſſenen Momenten eines gottgleicheren Zuſtandes, einer hoͤheren Geiſteswuͤrde, mehr Gluͤck empfinden koͤnnen, als in den lang hinvegetirten Jahren eines dumpfen Koͤhlerglaubens.
Auf jeden Fall war jene Kirchenherrſchaft eine Unterjochung der ſchlimmſten Art. Wer buͤrgte uns fuͤr die gute Abſicht, wie ich ſie eben ausgeſprochen? Wer kann beweiſen, daß ſich nicht zuweilen eine ſchlimme Abſicht beymiſchte? Rom wollte immer herrſchen, und als ſeine Le¬ gionen fielen, ſandte es Dogmen in die Provin¬ zen. Wie eine Rieſenſpinne ſaß Rom im Mit¬ telpunkte der lateiniſchen Welt und uͤberzog ſie mit ſeinem unendlichen Gewebe. Generationen der Voͤlker lebten darunter ein beruhigtes Leben, indem ſie das fuͤr einen nahen Himmel hielten, was bloß roͤmiſches Gewebe war; nur der hoͤ¬ herſtrebende Geiſt, der dieſes Gewebe durch¬
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0056"n="48"/>
wir wiſſen auch, daß ein Gluͤck, das wir der<lb/>
Luͤge verdanken, kein wahres Gluͤck iſt, und daß<lb/>
wir, in den einzelnen zerriſſenen Momenten<lb/>
eines gottgleicheren Zuſtandes, einer hoͤheren<lb/>
Geiſteswuͤrde, mehr Gluͤck empfinden koͤnnen, als<lb/>
in den lang hinvegetirten Jahren eines dumpfen<lb/>
Koͤhlerglaubens.</p><lb/><p>Auf jeden Fall war jene Kirchenherrſchaft<lb/>
eine Unterjochung der ſchlimmſten Art. Wer<lb/>
buͤrgte uns fuͤr die gute Abſicht, wie ich ſie eben<lb/>
ausgeſprochen? Wer kann beweiſen, daß ſich<lb/>
nicht zuweilen eine ſchlimme Abſicht beymiſchte?<lb/>
Rom wollte immer herrſchen, und als ſeine Le¬<lb/>
gionen fielen, ſandte es Dogmen in die Provin¬<lb/>
zen. Wie eine Rieſenſpinne ſaß Rom im Mit¬<lb/>
telpunkte der lateiniſchen Welt und uͤberzog ſie<lb/>
mit ſeinem unendlichen Gewebe. Generationen<lb/>
der Voͤlker lebten darunter ein beruhigtes Leben,<lb/>
indem ſie das fuͤr einen nahen Himmel hielten,<lb/>
was bloß roͤmiſches Gewebe war; nur der hoͤ¬<lb/>
herſtrebende Geiſt, der dieſes Gewebe durch¬<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[48/0056]
wir wiſſen auch, daß ein Gluͤck, das wir der
Luͤge verdanken, kein wahres Gluͤck iſt, und daß
wir, in den einzelnen zerriſſenen Momenten
eines gottgleicheren Zuſtandes, einer hoͤheren
Geiſteswuͤrde, mehr Gluͤck empfinden koͤnnen, als
in den lang hinvegetirten Jahren eines dumpfen
Koͤhlerglaubens.
Auf jeden Fall war jene Kirchenherrſchaft
eine Unterjochung der ſchlimmſten Art. Wer
buͤrgte uns fuͤr die gute Abſicht, wie ich ſie eben
ausgeſprochen? Wer kann beweiſen, daß ſich
nicht zuweilen eine ſchlimme Abſicht beymiſchte?
Rom wollte immer herrſchen, und als ſeine Le¬
gionen fielen, ſandte es Dogmen in die Provin¬
zen. Wie eine Rieſenſpinne ſaß Rom im Mit¬
telpunkte der lateiniſchen Welt und uͤberzog ſie
mit ſeinem unendlichen Gewebe. Generationen
der Voͤlker lebten darunter ein beruhigtes Leben,
indem ſie das fuͤr einen nahen Himmel hielten,
was bloß roͤmiſches Gewebe war; nur der hoͤ¬
herſtrebende Geiſt, der dieſes Gewebe durch¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 2. Hamburg, 1827, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder02_1827/56>, abgerufen am 27.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.