blieben und wechselweise sprachen. "Ihr Lüfte der dämmernden Nacht!" rief der Erste, "wie erqui¬ ckend kühlt Ihr meine Wangen! Wie lieblich spielt Ihr mit meinen flatternden Locken! Ich steh' auf des Berges wolkigem Gipfel, unter mir liegen die schlafenden Städte der Menschen, und blinken die blauen Gewässer. Horch! dort unten im Thale rau¬ schen die Tannen! Dort über die Hügel ziehen, in Nebelgestalten, die Geister der Väter. O, könnt' ich mit Euch jagen, auf dem Wolkenroß, durch die stürmische Nacht, über die rollende See, zu den Sternen hinauf! Aber ach! ich bin beladen mit Leid und meine Seele ist traurig!" -- Der andere Jüngling hatte ebenfalls seine Arme sehnsuchtsvoll nach dem Kleiderschrank ausgestreckt, Thränen stürz¬ ten aus seinen Augen, und zu einer gelbledernen Hose, die er für den Mond hielt, sprach er mit wehmüthiger Stimme: "Schön bist du, Tochter des Himmels! Holdselig ist deines Antlitzes Ruhe! Du wandelst einher in Lieblichkeit! Die Sterne folgen deinen blauen Pfaden im Osten. Bey dei¬
blieben und wechſelweiſe ſprachen. “Ihr Luͤfte der daͤmmernden Nacht!” rief der Erſte, “wie erqui¬ ckend kuͤhlt Ihr meine Wangen! Wie lieblich ſpielt Ihr mit meinen flatternden Locken! Ich ſteh' auf des Berges wolkigem Gipfel, unter mir liegen die ſchlafenden Staͤdte der Menſchen, und blinken die blauen Gewaͤſſer. Horch! dort unten im Thale rau¬ ſchen die Tannen! Dort uͤber die Huͤgel ziehen, in Nebelgeſtalten, die Geiſter der Vaͤter. O, koͤnnt' ich mit Euch jagen, auf dem Wolkenroß, durch die ſtuͤrmiſche Nacht, uͤber die rollende See, zu den Sternen hinauf! Aber ach! ich bin beladen mit Leid und meine Seele iſt traurig!” — Der andere Juͤngling hatte ebenfalls ſeine Arme ſehnſuchtsvoll nach dem Kleiderſchrank ausgeſtreckt, Thraͤnen ſtuͤrz¬ ten aus ſeinen Augen, und zu einer gelbledernen Hoſe, die er fuͤr den Mond hielt, ſprach er mit wehmuͤthiger Stimme: “Schoͤn biſt du, Tochter des Himmels! Holdſelig iſt deines Antlitzes Ruhe! Du wandelſt einher in Lieblichkeit! Die Sterne folgen deinen blauen Pfaden im Oſten. Bey dei¬
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blieben und wechſelweiſe ſprachen. “Ihr Luͤfte der
daͤmmernden Nacht!” rief der Erſte, “wie erqui¬
ckend kuͤhlt Ihr meine Wangen! Wie lieblich ſpielt
Ihr mit meinen flatternden Locken! Ich ſteh' auf
des Berges wolkigem Gipfel, unter mir liegen die
ſchlafenden Staͤdte der Menſchen, und blinken die
blauen Gewaͤſſer. Horch! dort unten im Thale rau¬
ſchen die Tannen! Dort uͤber die Huͤgel ziehen, in
Nebelgeſtalten, die Geiſter der Vaͤter. O, koͤnnt'
ich mit Euch jagen, auf dem Wolkenroß, durch die
ſtuͤrmiſche Nacht, uͤber die rollende See, zu den
Sternen hinauf! Aber ach! ich bin beladen mit
Leid und meine Seele iſt traurig!” — Der andere
Juͤngling hatte ebenfalls ſeine Arme ſehnſuchtsvoll
nach dem Kleiderſchrank ausgeſtreckt, Thraͤnen ſtuͤrz¬
ten aus ſeinen Augen, und zu einer gelbledernen
Hoſe, die er fuͤr den Mond hielt, ſprach er mit
wehmuͤthiger Stimme: “Schoͤn biſt du, Tochter
des Himmels! Holdſelig iſt deines Antlitzes Ruhe!
Du wandelſt einher in Lieblichkeit! Die Sterne
folgen deinen blauen Pfaden im Oſten. Bey dei¬
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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/239>, abgerufen am 04.12.2024.
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