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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826.

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so ernsthaft närrisches Gesicht schnitt, wenn er das¬
jenige nicht begreifen konnte, was jedes Kind be¬
greift, eben weil es ein Kind ist. Einige Mal
besuchte ich auch den Vernunft-Doctor in seinem
eigenen Hause, wo ich schöne Mädchen bey ihm
fand; denn die Vernunft verbietet nicht die Sinn¬
lichkeit. Als ich ihn einst ebenfalls besuchen wollte,
sagte mir sein Bedienter: der Herr Doctor ist eben
gestorben. Ich fühlte nicht viel mehr dabey, als
wenn er gesagt hätte: der Herr Doctor ist ausge¬
zogen. --

Doch zurück nach Goslar. "Das höchste Prin¬
zip ist die Vernunft!" sagte ich beschwichtigend zu
mir selbst, als ich in's Bett stieg. Indessen, es
half nicht. Ich hatte eben in Varnhagen von
Ense's "deutsche Erzählungen," die ich von Claus¬
thal mitgenommen hatte, jene entsetzliche Geschichte
gelesen, wie der Sohn, den sein eigener Vater er¬
morden wollte, in der Nacht von dem Geiste sei¬
ner todten Mutter gewarnt wird. Die wunder¬
bare Darstellung dieser Geschichte bewirkte, daß

ſo ernſthaft naͤrriſches Geſicht ſchnitt, wenn er das¬
jenige nicht begreifen konnte, was jedes Kind be¬
greift, eben weil es ein Kind iſt. Einige Mal
beſuchte ich auch den Vernunft-Doctor in ſeinem
eigenen Hauſe, wo ich ſchoͤne Maͤdchen bey ihm
fand; denn die Vernunft verbietet nicht die Sinn¬
lichkeit. Als ich ihn einſt ebenfalls beſuchen wollte,
ſagte mir ſein Bedienter: der Herr Doctor iſt eben
geſtorben. Ich fuͤhlte nicht viel mehr dabey, als
wenn er geſagt haͤtte: der Herr Doctor iſt ausge¬
zogen. —

Doch zuruͤck nach Goslar. “Das hoͤchſte Prin¬
zip iſt die Vernunft!” ſagte ich beſchwichtigend zu
mir ſelbſt, als ich in's Bett ſtieg. Indeſſen, es
half nicht. Ich hatte eben in Varnhagen von
Enſe's “deutſche Erzaͤhlungen,” die ich von Claus¬
thal mitgenommen hatte, jene entſetzliche Geſchichte
geleſen, wie der Sohn, den ſein eigener Vater er¬
morden wollte, in der Nacht von dem Geiſte ſei¬
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bare Darſtellung dieſer Geſchichte bewirkte, daß

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[174/0186] ſo ernſthaft naͤrriſches Geſicht ſchnitt, wenn er das¬ jenige nicht begreifen konnte, was jedes Kind be¬ greift, eben weil es ein Kind iſt. Einige Mal beſuchte ich auch den Vernunft-Doctor in ſeinem eigenen Hauſe, wo ich ſchoͤne Maͤdchen bey ihm fand; denn die Vernunft verbietet nicht die Sinn¬ lichkeit. Als ich ihn einſt ebenfalls beſuchen wollte, ſagte mir ſein Bedienter: der Herr Doctor iſt eben geſtorben. Ich fuͤhlte nicht viel mehr dabey, als wenn er geſagt haͤtte: der Herr Doctor iſt ausge¬ zogen. — Doch zuruͤck nach Goslar. “Das hoͤchſte Prin¬ zip iſt die Vernunft!” ſagte ich beſchwichtigend zu mir ſelbſt, als ich in's Bett ſtieg. Indeſſen, es half nicht. Ich hatte eben in Varnhagen von Enſe's “deutſche Erzaͤhlungen,” die ich von Claus¬ thal mitgenommen hatte, jene entſetzliche Geſchichte geleſen, wie der Sohn, den ſein eigener Vater er¬ morden wollte, in der Nacht von dem Geiſte ſei¬ ner todten Mutter gewarnt wird. Die wunder¬ bare Darſtellung dieſer Geſchichte bewirkte, daß

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/186>, abgerufen am 18.05.2024.