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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826.

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wenn ich mich des Nachts in einem verrufenen
Walde verirrte, oder wenn mich im Conzert ein
gähnender Lieutenant zu verschlingen drohte --
aber vor Geistern fürchte ich mich fast so sehr wie
der Oestreichische Beobachter. Was ist Furcht?
Kommt sie aus dem Verstande oder aus dem Ge¬
müth? Ueber diese Frage disputirte ich so oft mit
dem Doctor Saul Ascher, wenn wir zu Berlin,
im Cafe royal, wo ich lange Zeit meinen Mittags¬
tisch hatte, zufällig zusammen trafen. Er behaup¬
tete immer: wir fürchten etwas, weil wir es durch
Vernunftschlüsse für furchtbar erkennen. Nur die
Vernunft sey eine Kraft, nicht das Gemüth. Wäh¬
rend ich gut aß und gut trank, demonstrirte er mir
fortwährend die Vorzüge der Vernunft. Gegen
das Ende seiner Demonstration pflegte er nach
seiner Uhr zu sehen, und immer schloß er damit:
"Die Vernunft ist das höchste Prinzip!" -- Ver¬
nunft! Wenn ich jetzt dieses Wort höre, so sehe
ich noch immer den Doctor Saul Ascher mit sei¬
nen abstrakten Beinen, mit seinem engen, trans¬

wenn ich mich des Nachts in einem verrufenen
Walde verirrte, oder wenn mich im Conzert ein
gaͤhnender Lieutenant zu verſchlingen drohte —
aber vor Geiſtern fuͤrchte ich mich faſt ſo ſehr wie
der Oeſtreichiſche Beobachter. Was iſt Furcht?
Kommt ſie aus dem Verſtande oder aus dem Ge¬
muͤth? Ueber dieſe Frage diſputirte ich ſo oft mit
dem Doctor Saul Aſcher, wenn wir zu Berlin,
im Café royal, wo ich lange Zeit meinen Mittags¬
tiſch hatte, zufaͤllig zuſammen trafen. Er behaup¬
tete immer: wir fuͤrchten etwas, weil wir es durch
Vernunftſchluͤſſe fuͤr furchtbar erkennen. Nur die
Vernunft ſey eine Kraft, nicht das Gemuͤth. Waͤh¬
rend ich gut aß und gut trank, demonſtrirte er mir
fortwaͤhrend die Vorzuͤge der Vernunft. Gegen
das Ende ſeiner Demonſtration pflegte er nach
ſeiner Uhr zu ſehen, und immer ſchloß er damit:
“Die Vernunft iſt das hoͤchſte Prinzip!” — Ver¬
nunft! Wenn ich jetzt dieſes Wort hoͤre, ſo ſehe
ich noch immer den Doctor Saul Aſcher mit ſei¬
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[172/0184] wenn ich mich des Nachts in einem verrufenen Walde verirrte, oder wenn mich im Conzert ein gaͤhnender Lieutenant zu verſchlingen drohte — aber vor Geiſtern fuͤrchte ich mich faſt ſo ſehr wie der Oeſtreichiſche Beobachter. Was iſt Furcht? Kommt ſie aus dem Verſtande oder aus dem Ge¬ muͤth? Ueber dieſe Frage diſputirte ich ſo oft mit dem Doctor Saul Aſcher, wenn wir zu Berlin, im Café royal, wo ich lange Zeit meinen Mittags¬ tiſch hatte, zufaͤllig zuſammen trafen. Er behaup¬ tete immer: wir fuͤrchten etwas, weil wir es durch Vernunftſchluͤſſe fuͤr furchtbar erkennen. Nur die Vernunft ſey eine Kraft, nicht das Gemuͤth. Waͤh¬ rend ich gut aß und gut trank, demonſtrirte er mir fortwaͤhrend die Vorzuͤge der Vernunft. Gegen das Ende ſeiner Demonſtration pflegte er nach ſeiner Uhr zu ſehen, und immer ſchloß er damit: “Die Vernunft iſt das hoͤchſte Prinzip!” — Ver¬ nunft! Wenn ich jetzt dieſes Wort hoͤre, ſo ſehe ich noch immer den Doctor Saul Aſcher mit ſei¬ nen abſtrakten Beinen, mit ſeinem engen, trans¬

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/184>, abgerufen am 18.05.2024.