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Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826.

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Volk hat noch immer den traditionell fabelhaften
Ideengang, der sich so lieblich ausspricht in seinem
"Herzog Ernst." Der Erzähler jener Neuigkeit
war ein Schneidergesell, ein niedlicher, kleiner jun¬
ger Mensch, so dünn, daß die Sterne durchschim¬
mern konnten, wie durch Ossian's Nebelgeister, und
im Ganzen eine volksthümlich barocke Mischung
von Laune und Wehmuth. Dieses äußerte sich be¬
sonders in der drollig rührenden Weise, womit er
das wunderbare Volkslied sang: "Ein Käfer auf
dem Zaune saß, summ, summ!" Das ist schön
bey uns Deutschen; Keiner ist so verrückt, daß er
nicht einen noch Verrückteren fände, der ihn ver¬
steht. Nur ein Deutscher kann jenes Lied nach¬
empfinden, und sich dabey todtlachen und todtweinen.
Wie tief das Goethesche Wort in's Leben des Volks
gedrungen, bemerkte ich auch hier. Mein dünner
Weggenosse trillerte ebenfalls zuweilen vor sich hin:
"Leidvoll und freudvoll, Gedanken sind frei!"
Solche Corruption des Textes ist bey'm Volke
etwas Gewöhnliches. Er sang auch ein Lied, wo

Volk hat noch immer den traditionell fabelhaften
Ideengang, der ſich ſo lieblich ausſpricht in ſeinem
„Herzog Ernſt.“ Der Erzaͤhler jener Neuigkeit
war ein Schneidergeſell, ein niedlicher, kleiner jun¬
ger Menſch, ſo duͤnn, daß die Sterne durchſchim¬
mern konnten, wie durch Oſſian's Nebelgeiſter, und
im Ganzen eine volksthuͤmlich barocke Miſchung
von Laune und Wehmuth. Dieſes aͤußerte ſich be¬
ſonders in der drollig ruͤhrenden Weiſe, womit er
das wunderbare Volkslied ſang: „Ein Kaͤfer auf
dem Zaune ſaß, ſumm, ſumm!“ Das iſt ſchoͤn
bey uns Deutſchen; Keiner iſt ſo verruͤckt, daß er
nicht einen noch Verruͤckteren faͤnde, der ihn ver¬
ſteht. Nur ein Deutſcher kann jenes Lied nach¬
empfinden, und ſich dabey todtlachen und todtweinen.
Wie tief das Goetheſche Wort in's Leben des Volks
gedrungen, bemerkte ich auch hier. Mein duͤnner
Weggenoſſe trillerte ebenfalls zuweilen vor ſich hin:
„Leidvoll und freudvoll, Gedanken ſind frei!“
Solche Corruption des Textes iſt bey'm Volke
etwas Gewoͤhnliches. Er ſang auch ein Lied, wo

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[135/0147] Volk hat noch immer den traditionell fabelhaften Ideengang, der ſich ſo lieblich ausſpricht in ſeinem „Herzog Ernſt.“ Der Erzaͤhler jener Neuigkeit war ein Schneidergeſell, ein niedlicher, kleiner jun¬ ger Menſch, ſo duͤnn, daß die Sterne durchſchim¬ mern konnten, wie durch Oſſian's Nebelgeiſter, und im Ganzen eine volksthuͤmlich barocke Miſchung von Laune und Wehmuth. Dieſes aͤußerte ſich be¬ ſonders in der drollig ruͤhrenden Weiſe, womit er das wunderbare Volkslied ſang: „Ein Kaͤfer auf dem Zaune ſaß, ſumm, ſumm!“ Das iſt ſchoͤn bey uns Deutſchen; Keiner iſt ſo verruͤckt, daß er nicht einen noch Verruͤckteren faͤnde, der ihn ver¬ ſteht. Nur ein Deutſcher kann jenes Lied nach¬ empfinden, und ſich dabey todtlachen und todtweinen. Wie tief das Goetheſche Wort in's Leben des Volks gedrungen, bemerkte ich auch hier. Mein duͤnner Weggenoſſe trillerte ebenfalls zuweilen vor ſich hin: „Leidvoll und freudvoll, Gedanken ſind frei!“ Solche Corruption des Textes iſt bey'm Volke etwas Gewoͤhnliches. Er ſang auch ein Lied, wo

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Zitationshilfe: Heine, Heinrich: Reisebilder. Bd. 1. Hamburg, 1826, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heine_reisebilder01_1826/147>, abgerufen am 27.11.2024.