Wahrheit; und diese Wahrheit ist also seine als In- halt vorgestellte unmittelbare Gewissheit seiner selbst, das heisst, überhaupt die Willkühr des Einzelnen und die Zufälligkeit seines bewusstlosen natürlichen Seyns.
Dieser Inhalt gilt zugleich als moralische We- senheit oder als Pflicht. Denn die reine Pflicht ist, wie schon bey dem Prüffen der Gesetze sich ergab, schlecht- hin gleichgültig gegen jeden Inhalt, und verträgt je- den Inhalt. Hier hat sie zugleich die wesentliche Form des Fürsichseyns, und diese Form der indivi- duellen Ueberzeugung ist nichts anderes als das Be- wusstseyn von der Leerheit der reinen Pflicht, und davon dass sie nur Moment, dass seine Substantialität ein Prädicat ist, welches sein Subject an dem Indivi- duum hat, dessen Willkühr ihr den Inhalt gibt, je- den an diese Form knüpfen, und seine Gewissenhaff- tigkeit an ihn hessten kann. -- Ein Individuum ver- mehrt sein Eigenthum auf eine gewisse Weise; es ist Pflicht, dass jedes für die Erhaltung seiner selbst wie auch seiner Familie, nicht weniger für die Möglich- keit sorgt, seinen Nebenmenschen nützlich zu wer- den, und Hülfsbedürftigen gutes zu thun. Das In- dividuum ist sich bewusst, dass diss Pflicht ist, denn dieser Inhalt ist unmittelbar in der Gewissheit seiner selbst enthalten; es sieht ferner ein, dass es diese Pflicht in diesem Falle erfüllt. Andere halten viel- leicht diese gewisse Weise für Betrug; sie halten sich an andere Seiten des concreten Falles, es aber hält
Wahrheit; und dieſe Wahrheit iſt alſo ſeine als In- halt vorgeſtellte unmittelbare Gewiſsheit ſeiner ſelbſt, das heiſst, überhaupt die Willkühr des Einzelnen und die Zufälligkeit ſeines bewuſstlosen natürlichen Seyns.
Dieſer Inhalt gilt zugleich als moraliſche We- ſenheit oder als Pflicht. Denn die reine Pflicht ist, wie ſchon bey dem Prüffen der Geſetze sich ergab, ſchlecht- hin gleichgültig gegen jeden Inhalt, und verträgt je- den Inhalt. Hier hat sie zugleich die weſentliche Form des Fürsichſeyns, und dieſe Form der indivi- duellen Ueberzeugung ist nichts anderes als das Be- wuſstseyn von der Leerheit der reinen Pflicht, und davon daſs sie nur Moment, daſs ſeine Subſtantialität ein Prädicat ist, welches ſein Subject an dem Indivi- duum hat, deſſen Willkühr ihr den Inhalt gibt, je- den an dieſe Form knüpfen, und ſeine Gewiſſenhaff- tigkeit an ihn heſſten kann. — Ein Individuum ver- mehrt ſein Eigenthum auf eine gewiſſe Weiſe; es iſt Pflicht, daſs jedes für die Erhaltung ſeiner ſelbſt wie auch ſeiner Familie, nicht weniger für die Möglich- keit ſorgt, ſeinen Nebenmenschen nützlich zu wer- den, und Hülfsbedürftigen gutes zu thun. Das In- dividuum ist sich bewuſst, daſs diſs Pflicht iſt, denn dieſer Inhalt iſt unmittelbar in der Gewiſsheit ſeiner ſelbſt enthalten; es sieht ferner ein, daſs es dieſe Pflicht in dieſem Falle erfüllt. Andere halten viel- leicht dieſe gewiſſe Weiſe für Betrug; ſie halten ſich an andere Seiten des concreten Falles, es aber hält
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Wahrheit; und dieſe Wahrheit iſt alſo ſeine als In-
halt vorgeſtellte unmittelbare Gewiſsheit ſeiner ſelbſt,
das heiſst, überhaupt die Willkühr des Einzelnen
und die Zufälligkeit ſeines bewuſstlosen natürlichen
Seyns.
Dieſer Inhalt gilt zugleich als moraliſche We-
ſenheit oder als Pflicht. Denn die reine Pflicht ist, wie
ſchon bey dem Prüffen der Geſetze sich ergab, ſchlecht-
hin gleichgültig gegen jeden Inhalt, und verträgt je-
den Inhalt. Hier hat sie zugleich die weſentliche
Form des Fürsichſeyns, und dieſe Form der indivi-
duellen Ueberzeugung ist nichts anderes als das Be-
wuſstseyn von der Leerheit der reinen Pflicht, und
davon daſs sie nur Moment, daſs ſeine Subſtantialität
ein Prädicat ist, welches ſein Subject an dem Indivi-
duum hat, deſſen Willkühr ihr den Inhalt gibt, je-
den an dieſe Form knüpfen, und ſeine Gewiſſenhaff-
tigkeit an ihn heſſten kann. — Ein Individuum ver-
mehrt ſein Eigenthum auf eine gewiſſe Weiſe; es iſt
Pflicht, daſs jedes für die Erhaltung ſeiner ſelbſt wie
auch ſeiner Familie, nicht weniger für die Möglich-
keit ſorgt, ſeinen Nebenmenschen nützlich zu wer-
den, und Hülfsbedürftigen gutes zu thun. Das In-
dividuum ist sich bewuſst, daſs diſs Pflicht iſt, denn
dieſer Inhalt iſt unmittelbar in der Gewiſsheit ſeiner
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Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: System der Wissenschaft. Erster Theil: Die Phänomenologie des Geistes. Bamberg u. a., 1807, S. 594. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hegel_phaenomenologie_1807/703>, abgerufen am 22.11.2024.
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