Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: System der Wissenschaft. Erster Theil: Die Phänomenologie des Geistes. Bamberg u. a., 1807.

Bild:
<< vorherige Seite

Wahrheit; und diese Wahrheit ist also seine als In-
halt
vorgestellte unmittelbare Gewissheit seiner selbst,
das heisst, überhaupt die Willkühr des Einzelnen
und die Zufälligkeit seines bewusstlosen natürlichen
Seyns.

Dieser Inhalt gilt zugleich als moralische We-
senheit
oder als Pflicht. Denn die reine Pflicht ist, wie
schon bey dem Prüffen der Gesetze sich ergab, schlecht-
hin gleichgültig gegen jeden Inhalt, und verträgt je-
den Inhalt. Hier hat sie zugleich die wesentliche
Form des Fürsichseyns, und diese Form der indivi-
duellen Ueberzeugung ist nichts anderes als das Be-
wusstseyn von der Leerheit der reinen Pflicht, und
davon dass sie nur Moment, dass seine Substantialität
ein Prädicat ist, welches sein Subject an dem Indivi-
duum hat, dessen Willkühr ihr den Inhalt gibt, je-
den an diese Form knüpfen, und seine Gewissenhaff-
tigkeit an ihn hessten kann. -- Ein Individuum ver-
mehrt sein Eigenthum auf eine gewisse Weise; es ist
Pflicht, dass jedes für die Erhaltung seiner selbst wie
auch seiner Familie, nicht weniger für die Möglich-
keit
sorgt, seinen Nebenmenschen nützlich zu wer-
den, und Hülfsbedürftigen gutes zu thun. Das In-
dividuum ist sich bewusst, dass diss Pflicht ist, denn
dieser Inhalt ist unmittelbar in der Gewissheit seiner
selbst enthalten; es sieht ferner ein, dass es diese
Pflicht in diesem Falle erfüllt. Andere halten viel-
leicht diese gewisse Weise für Betrug; sie halten sich
an andere Seiten des concreten Falles, es aber hält

Wahrheit; und dieſe Wahrheit iſt alſo ſeine als In-
halt
vorgeſtellte unmittelbare Gewiſsheit ſeiner ſelbſt,
das heiſst, überhaupt die Willkühr des Einzelnen
und die Zufälligkeit ſeines bewuſstlosen natürlichen
Seyns.

Dieſer Inhalt gilt zugleich als moraliſche We-
ſenheit
oder als Pflicht. Denn die reine Pflicht ist, wie
ſchon bey dem Prüffen der Geſetze sich ergab, ſchlecht-
hin gleichgültig gegen jeden Inhalt, und verträgt je-
den Inhalt. Hier hat sie zugleich die weſentliche
Form des Fürsichſeyns, und dieſe Form der indivi-
duellen Ueberzeugung ist nichts anderes als das Be-
wuſstseyn von der Leerheit der reinen Pflicht, und
davon daſs sie nur Moment, daſs ſeine Subſtantialität
ein Prädicat ist, welches ſein Subject an dem Indivi-
duum hat, deſſen Willkühr ihr den Inhalt gibt, je-
den an dieſe Form knüpfen, und ſeine Gewiſſenhaff-
tigkeit an ihn heſſten kann. — Ein Individuum ver-
mehrt ſein Eigenthum auf eine gewiſſe Weiſe; es iſt
Pflicht, daſs jedes für die Erhaltung ſeiner ſelbſt wie
auch ſeiner Familie, nicht weniger für die Möglich-
keit
ſorgt, ſeinen Nebenmenschen nützlich zu wer-
den, und Hülfsbedürftigen gutes zu thun. Das In-
dividuum ist sich bewuſst, daſs diſs Pflicht iſt, denn
dieſer Inhalt iſt unmittelbar in der Gewiſsheit ſeiner
ſelbſt enthalten; es sieht ferner ein, daſs es dieſe
Pflicht in dieſem Falle erfüllt. Andere halten viel-
leicht dieſe gewiſſe Weiſe für Betrug; ſie halten ſich
an andere Seiten des concreten Falles, es aber hält

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0703" n="594"/>
Wahrheit; und die&#x017F;e Wahrheit i&#x017F;t al&#x017F;o &#x017F;eine als <hi rendition="#i">In-<lb/>
halt</hi> vorge&#x017F;tellte unmittelbare Gewi&#x017F;sheit &#x017F;einer &#x017F;elb&#x017F;t,<lb/>
das hei&#x017F;st, überhaupt die Willkühr des Einzelnen<lb/>
und die Zufälligkeit &#x017F;eines bewu&#x017F;stlosen natürlichen<lb/>
Seyns.</p><lb/>
              <p>Die&#x017F;er Inhalt gilt zugleich als morali&#x017F;che <hi rendition="#i">We-<lb/>
&#x017F;enheit</hi> oder als <hi rendition="#i">Pflicht</hi>. Denn die reine Pflicht ist, wie<lb/>
&#x017F;chon bey dem Prüffen der Ge&#x017F;etze sich ergab, &#x017F;chlecht-<lb/>
hin gleichgültig gegen jeden Inhalt, und verträgt je-<lb/>
den Inhalt. Hier hat sie zugleich die we&#x017F;entliche<lb/>
Form des <hi rendition="#i">Fürsich&#x017F;eyns</hi>, und die&#x017F;e Form der indivi-<lb/>
duellen Ueberzeugung ist nichts anderes als das Be-<lb/>
wu&#x017F;stseyn von der Leerheit der reinen Pflicht, und<lb/>
davon da&#x017F;s sie nur Moment, da&#x017F;s &#x017F;eine Sub&#x017F;tantialität<lb/>
ein Prädicat ist, welches &#x017F;ein Subject an dem Indivi-<lb/>
duum hat, de&#x017F;&#x017F;en Willkühr ihr den Inhalt gibt, je-<lb/>
den an die&#x017F;e Form knüpfen, und &#x017F;eine Gewi&#x017F;&#x017F;enhaff-<lb/>
tigkeit an ihn he&#x017F;&#x017F;ten kann. &#x2014; Ein Individuum ver-<lb/>
mehrt &#x017F;ein Eigenthum auf eine gewi&#x017F;&#x017F;e Wei&#x017F;e; es i&#x017F;t<lb/>
Pflicht, da&#x017F;s jedes für die Erhaltung &#x017F;einer &#x017F;elb&#x017F;t wie<lb/>
auch &#x017F;einer Familie, nicht weniger für die <hi rendition="#i">Möglich-<lb/>
keit</hi> &#x017F;orgt, &#x017F;einen Nebenmenschen nützlich zu wer-<lb/>
den, und Hülfsbedürftigen gutes zu thun. Das In-<lb/>
dividuum ist sich bewu&#x017F;st, da&#x017F;s di&#x017F;s Pflicht i&#x017F;t, denn<lb/>
die&#x017F;er Inhalt i&#x017F;t unmittelbar in der Gewi&#x017F;sheit &#x017F;einer<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t enthalten; es sieht ferner ein, da&#x017F;s es die&#x017F;e<lb/>
Pflicht in die&#x017F;em Falle erfüllt. Andere halten viel-<lb/>
leicht die&#x017F;e gewi&#x017F;&#x017F;e Wei&#x017F;e für Betrug; <hi rendition="#i">&#x017F;ie</hi> halten &#x017F;ich<lb/>
an andere Seiten des concreten Falles, <hi rendition="#i">es</hi> aber hält<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[594/0703] Wahrheit; und dieſe Wahrheit iſt alſo ſeine als In- halt vorgeſtellte unmittelbare Gewiſsheit ſeiner ſelbſt, das heiſst, überhaupt die Willkühr des Einzelnen und die Zufälligkeit ſeines bewuſstlosen natürlichen Seyns. Dieſer Inhalt gilt zugleich als moraliſche We- ſenheit oder als Pflicht. Denn die reine Pflicht ist, wie ſchon bey dem Prüffen der Geſetze sich ergab, ſchlecht- hin gleichgültig gegen jeden Inhalt, und verträgt je- den Inhalt. Hier hat sie zugleich die weſentliche Form des Fürsichſeyns, und dieſe Form der indivi- duellen Ueberzeugung ist nichts anderes als das Be- wuſstseyn von der Leerheit der reinen Pflicht, und davon daſs sie nur Moment, daſs ſeine Subſtantialität ein Prädicat ist, welches ſein Subject an dem Indivi- duum hat, deſſen Willkühr ihr den Inhalt gibt, je- den an dieſe Form knüpfen, und ſeine Gewiſſenhaff- tigkeit an ihn heſſten kann. — Ein Individuum ver- mehrt ſein Eigenthum auf eine gewiſſe Weiſe; es iſt Pflicht, daſs jedes für die Erhaltung ſeiner ſelbſt wie auch ſeiner Familie, nicht weniger für die Möglich- keit ſorgt, ſeinen Nebenmenschen nützlich zu wer- den, und Hülfsbedürftigen gutes zu thun. Das In- dividuum ist sich bewuſst, daſs diſs Pflicht iſt, denn dieſer Inhalt iſt unmittelbar in der Gewiſsheit ſeiner ſelbſt enthalten; es sieht ferner ein, daſs es dieſe Pflicht in dieſem Falle erfüllt. Andere halten viel- leicht dieſe gewiſſe Weiſe für Betrug; ſie halten ſich an andere Seiten des concreten Falles, es aber hält

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/hegel_phaenomenologie_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/hegel_phaenomenologie_1807/703
Zitationshilfe: Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: System der Wissenschaft. Erster Theil: Die Phänomenologie des Geistes. Bamberg u. a., 1807, S. 594. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hegel_phaenomenologie_1807/703>, abgerufen am 22.11.2024.