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Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844.

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§. 6. Einleitung.
gefordert hätte, und dadurch die Gefahr einer Verletzung nicht ge-
nügend entfernt. Sehr wahr bemerkte endlich schon Jean Paul:
"Ein ewiges Gleichgewicht setzt ein Gleichgewicht der vier
übrigen Welttheile voraus, welches man, wenige Librationen
abgerechnet, der Welt dereinst versprechen kann --" (Hesperus)

sollte auch letzteres eine ferne, vielleicht leere Hoffnung sein.

Giltigkeits-Gebiet des Europäischen Völkerrechts.

6. Ein auf gegenseitiger Anerkennung beruhendes Recht kann
nur unter denjenigen Staaten Geltung haben, unter welchen eine
Reciprocität der Anwendung gesichert ist und demnach ein wechselsei-
tiger Verkehr nach denselben Grundsätzen besteht oder vorauszusetzen
ist (commercium juris praebendi repetendique, Dikäodosie).
Hierzu bedarf es nicht nothwendig einer ausdrücklichen vertragwei-
sen Bestimmung; es genügt schon die aus dem Charakter und den
Interessen der einzelnen Staaten so wie aus dem bestehenden Ver-
kehr als Bedingung desselben hervorgehende Gewißheit, daß man
auf Reciprocität der Behandlung nach bestimmten Regeln zu rech-
nen, oder im Fall der Verletzung einen Kampf oder Ausschlie-
ßung von der Gemeinschaft mit anderen zu erwarten habe. So
gilt denn auch das Europäische Völkerrecht seiner geschichtlichen
Wurzel nach (§. 5.) wesentlich nur unter christlichen Staaten, de-
ren Sittlichkeit durch ein Uebereinkommen in den höchsten Gesetzen
der Humanität und dem damit übereinstimmenden Charakter der
Staatsgewalten verbürgt ist. Es findet dagegen nur eine theil-
weise, sorgfältig nach der zu erwartenden Reciprocität abgemessene
Anwendung gegen nicht christliche Staaten, sofern man nicht frei-
willig auch hier das sittliche Princip zur Richtschnur seiner Hand-
lungen machen will; 1 und auf gleiche Weise ist das Verhalten
gegen neu entstehende oder entstandene Staaten, die noch keine all-

1 So steht es im Wesentlichen mit dem Verhältniß der Europäischen Mächte
zur hohen Pforte. Alle Verbindungen mit derselben beruhen zur Zeit auf
politischer Convenienz und auf dem schweren Gewicht, welches der feste
Wille der vereinigten christlichen Mächte der Pforte gegenüber ausübt. Sonst
würde noch immer wahr sein, was Mably (droit des gens t. II, p. 13)
mit Ricaut über die Unmöglichkeit eines wahrhaft rechtlichen Bandes be-
merkt hat. Man sehe auch Wheaton intern. law. §. 10.

§. 6. Einleitung.
gefordert hätte, und dadurch die Gefahr einer Verletzung nicht ge-
nügend entfernt. Sehr wahr bemerkte endlich ſchon Jean Paul:
„Ein ewiges Gleichgewicht ſetzt ein Gleichgewicht der vier
übrigen Welttheile voraus, welches man, wenige Librationen
abgerechnet, der Welt dereinſt verſprechen kann —“ (Hesperus)

ſollte auch letzteres eine ferne, vielleicht leere Hoffnung ſein.

Giltigkeits-Gebiet des Europäiſchen Völkerrechts.

6. Ein auf gegenſeitiger Anerkennung beruhendes Recht kann
nur unter denjenigen Staaten Geltung haben, unter welchen eine
Reciprocität der Anwendung geſichert iſt und demnach ein wechſelſei-
tiger Verkehr nach denſelben Grundſätzen beſteht oder vorauszuſetzen
iſt (commercium juris praebendi repetendique, Dikäodoſie).
Hierzu bedarf es nicht nothwendig einer ausdrücklichen vertragwei-
ſen Beſtimmung; es genügt ſchon die aus dem Charakter und den
Intereſſen der einzelnen Staaten ſo wie aus dem beſtehenden Ver-
kehr als Bedingung deſſelben hervorgehende Gewißheit, daß man
auf Reciprocität der Behandlung nach beſtimmten Regeln zu rech-
nen, oder im Fall der Verletzung einen Kampf oder Ausſchlie-
ßung von der Gemeinſchaft mit anderen zu erwarten habe. So
gilt denn auch das Europäiſche Völkerrecht ſeiner geſchichtlichen
Wurzel nach (§. 5.) weſentlich nur unter chriſtlichen Staaten, de-
ren Sittlichkeit durch ein Uebereinkommen in den höchſten Geſetzen
der Humanität und dem damit übereinſtimmenden Charakter der
Staatsgewalten verbürgt iſt. Es findet dagegen nur eine theil-
weiſe, ſorgfältig nach der zu erwartenden Reciprocität abgemeſſene
Anwendung gegen nicht chriſtliche Staaten, ſofern man nicht frei-
willig auch hier das ſittliche Princip zur Richtſchnur ſeiner Hand-
lungen machen will; 1 und auf gleiche Weiſe iſt das Verhalten
gegen neu entſtehende oder entſtandene Staaten, die noch keine all-

1 So ſteht es im Weſentlichen mit dem Verhältniß der Europäiſchen Mächte
zur hohen Pforte. Alle Verbindungen mit derſelben beruhen zur Zeit auf
politiſcher Convenienz und auf dem ſchweren Gewicht, welches der feſte
Wille der vereinigten chriſtlichen Mächte der Pforte gegenüber ausübt. Sonſt
würde noch immer wahr ſein, was Mably (droit des gens t. II, p. 13)
mit Ricaut über die Unmöglichkeit eines wahrhaft rechtlichen Bandes be-
merkt hat. Man ſehe auch Wheaton intern. law. §. 10.
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[11/0035] §. 6. Einleitung. gefordert hätte, und dadurch die Gefahr einer Verletzung nicht ge- nügend entfernt. Sehr wahr bemerkte endlich ſchon Jean Paul: „Ein ewiges Gleichgewicht ſetzt ein Gleichgewicht der vier übrigen Welttheile voraus, welches man, wenige Librationen abgerechnet, der Welt dereinſt verſprechen kann —“ (Hesperus) ſollte auch letzteres eine ferne, vielleicht leere Hoffnung ſein. Giltigkeits-Gebiet des Europäiſchen Völkerrechts. 6. Ein auf gegenſeitiger Anerkennung beruhendes Recht kann nur unter denjenigen Staaten Geltung haben, unter welchen eine Reciprocität der Anwendung geſichert iſt und demnach ein wechſelſei- tiger Verkehr nach denſelben Grundſätzen beſteht oder vorauszuſetzen iſt (commercium juris praebendi repetendique, Dikäodoſie). Hierzu bedarf es nicht nothwendig einer ausdrücklichen vertragwei- ſen Beſtimmung; es genügt ſchon die aus dem Charakter und den Intereſſen der einzelnen Staaten ſo wie aus dem beſtehenden Ver- kehr als Bedingung deſſelben hervorgehende Gewißheit, daß man auf Reciprocität der Behandlung nach beſtimmten Regeln zu rech- nen, oder im Fall der Verletzung einen Kampf oder Ausſchlie- ßung von der Gemeinſchaft mit anderen zu erwarten habe. So gilt denn auch das Europäiſche Völkerrecht ſeiner geſchichtlichen Wurzel nach (§. 5.) weſentlich nur unter chriſtlichen Staaten, de- ren Sittlichkeit durch ein Uebereinkommen in den höchſten Geſetzen der Humanität und dem damit übereinſtimmenden Charakter der Staatsgewalten verbürgt iſt. Es findet dagegen nur eine theil- weiſe, ſorgfältig nach der zu erwartenden Reciprocität abgemeſſene Anwendung gegen nicht chriſtliche Staaten, ſofern man nicht frei- willig auch hier das ſittliche Princip zur Richtſchnur ſeiner Hand- lungen machen will; 1 und auf gleiche Weiſe iſt das Verhalten gegen neu entſtehende oder entſtandene Staaten, die noch keine all- 1 So ſteht es im Weſentlichen mit dem Verhältniß der Europäiſchen Mächte zur hohen Pforte. Alle Verbindungen mit derſelben beruhen zur Zeit auf politiſcher Convenienz und auf dem ſchweren Gewicht, welches der feſte Wille der vereinigten chriſtlichen Mächte der Pforte gegenüber ausübt. Sonſt würde noch immer wahr ſein, was Mably (droit des gens t. II, p. 13) mit Ricaut über die Unmöglichkeit eines wahrhaft rechtlichen Bandes be- merkt hat. Man ſehe auch Wheaton intern. law. §. 10.

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Zitationshilfe: Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844, S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844/35>, abgerufen am 22.11.2024.