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Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844.

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Erstes Buch. §. 81.
Bindungsmittel benutzt worden, und dennoch hat man ihnen nicht
immer allein vertraut; vielmehr hat man in älterer Zeit die Macht
der Religion und die Furcht vor dem Uebersinnlichen zu Hilfe ge-
nommen, um ihnen größere Haltbarkeit zu verleihen; seitdem aber
auch jenes Mittel sich oft als unzureichend für diesen Zweck erge-
ben, ist wohl der nackte Glaube an eine Selbstgiltigkeit der Ver-
träge übrig geblieben und durch das Christenthum, wie durch das
positive Recht, endlich auch durch die Philosophie gekräftigt wor-
den; aber nicht selten hat ihm die Praxis Hohn gesprochen und
noch immer hat man sich nicht darüber verständigt, ob, warum
und wie weit ein Vertrag durch sich selbst verpflichte. 1

Schwerlich wird man darüber eine andere Ansicht vertheidigen
können, als die, daß ein Vertrag (duorum vel plurium in idem
consensus
) an sich nur durch die Einheit des Willens ein Recht
setze, folglich auch nur so lange diese Einheit dauert; und daß im
Fall der Willensänderung eines Theiles der Andere nur berechtigt
ist, die Wiederherstellung des vorigen Zustandes zu fordern mit
Einschluß des Schadens, den er durch redliches Eingehen in den
Willen des Mitcontrahenten in seinen bisherigen Rechten erduldet
hat. Nur der allgemeine Wille, gestützt auf gleiches Interesse und
gleiche sittliche Gesinnung, kann außerdem nach dem Vertrag Ein-
zelner eine Verpflichtung zur directen dauernden Erfüllung desjeni-
gen hinzufügen, was versprochen worden ist. Dazu besitzt indessen
bloß der Staat in sich selbst für die Individuen die Mittel; für
das internationale Recht fehlt es an einer solchen Zwingmacht;
der Vertrag hat demnach hier nur die angegebene natürliche Kraft
und Bedeutung; eine besondere Stütze findet er bloß im gegensei-
tigen Interesse, durch seine Vermittelung fortdauernd im Verkehr
mit andern Staaten zu bleiben und neue Rechte zu erwerben; eine
noch größere Garantie erhält er im Staatensysteme, wie das Eu-
ropäische ist, welches an sich auf Gegenseitigkeit und Willensüber-
einstimmung beruht, dem man folglich nur angehören kann,
wenn man diejenigen Grundsätze von der verpflichtenden Kraft der

v. Kamptz §. 239 ff. Unter den Systemen sind besonders beachtenswerth:
Moser, Vers. VIII. de Neumann in Wolffsf. de pact. et contractib.
Princip. 1752. Vattel II. ch.
12.
1 Man sehe die verschiedenen Erklärungen in Warnkönig Rechtsphilosophie
§. 176.

Erſtes Buch. §. 81.
Bindungsmittel benutzt worden, und dennoch hat man ihnen nicht
immer allein vertraut; vielmehr hat man in älterer Zeit die Macht
der Religion und die Furcht vor dem Ueberſinnlichen zu Hilfe ge-
nommen, um ihnen größere Haltbarkeit zu verleihen; ſeitdem aber
auch jenes Mittel ſich oft als unzureichend für dieſen Zweck erge-
ben, iſt wohl der nackte Glaube an eine Selbſtgiltigkeit der Ver-
träge übrig geblieben und durch das Chriſtenthum, wie durch das
poſitive Recht, endlich auch durch die Philoſophie gekräftigt wor-
den; aber nicht ſelten hat ihm die Praxis Hohn geſprochen und
noch immer hat man ſich nicht darüber verſtändigt, ob, warum
und wie weit ein Vertrag durch ſich ſelbſt verpflichte. 1

Schwerlich wird man darüber eine andere Anſicht vertheidigen
können, als die, daß ein Vertrag (duorum vel plurium in idem
consensus
) an ſich nur durch die Einheit des Willens ein Recht
ſetze, folglich auch nur ſo lange dieſe Einheit dauert; und daß im
Fall der Willensänderung eines Theiles der Andere nur berechtigt
iſt, die Wiederherſtellung des vorigen Zuſtandes zu fordern mit
Einſchluß des Schadens, den er durch redliches Eingehen in den
Willen des Mitcontrahenten in ſeinen bisherigen Rechten erduldet
hat. Nur der allgemeine Wille, geſtützt auf gleiches Intereſſe und
gleiche ſittliche Geſinnung, kann außerdem nach dem Vertrag Ein-
zelner eine Verpflichtung zur directen dauernden Erfüllung desjeni-
gen hinzufügen, was verſprochen worden iſt. Dazu beſitzt indeſſen
bloß der Staat in ſich ſelbſt für die Individuen die Mittel; für
das internationale Recht fehlt es an einer ſolchen Zwingmacht;
der Vertrag hat demnach hier nur die angegebene natürliche Kraft
und Bedeutung; eine beſondere Stütze findet er bloß im gegenſei-
tigen Intereſſe, durch ſeine Vermittelung fortdauernd im Verkehr
mit andern Staaten zu bleiben und neue Rechte zu erwerben; eine
noch größere Garantie erhält er im Staatenſyſteme, wie das Eu-
ropäiſche iſt, welches an ſich auf Gegenſeitigkeit und Willensüber-
einſtimmung beruht, dem man folglich nur angehören kann,
wenn man diejenigen Grundſätze von der verpflichtenden Kraft der

v. Kamptz §. 239 ff. Unter den Syſtemen ſind beſonders beachtenswerth:
Moſer, Verſ. VIII. de Neumann in Wolffsf. de pact. et contractib.
Princip. 1752. Vattel II. ch.
12.
1 Man ſehe die verſchiedenen Erklärungen in Warnkönig Rechtsphiloſophie
§. 176.
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[144/0168] Erſtes Buch. §. 81. Bindungsmittel benutzt worden, und dennoch hat man ihnen nicht immer allein vertraut; vielmehr hat man in älterer Zeit die Macht der Religion und die Furcht vor dem Ueberſinnlichen zu Hilfe ge- nommen, um ihnen größere Haltbarkeit zu verleihen; ſeitdem aber auch jenes Mittel ſich oft als unzureichend für dieſen Zweck erge- ben, iſt wohl der nackte Glaube an eine Selbſtgiltigkeit der Ver- träge übrig geblieben und durch das Chriſtenthum, wie durch das poſitive Recht, endlich auch durch die Philoſophie gekräftigt wor- den; aber nicht ſelten hat ihm die Praxis Hohn geſprochen und noch immer hat man ſich nicht darüber verſtändigt, ob, warum und wie weit ein Vertrag durch ſich ſelbſt verpflichte. 1 Schwerlich wird man darüber eine andere Anſicht vertheidigen können, als die, daß ein Vertrag (duorum vel plurium in idem consensus) an ſich nur durch die Einheit des Willens ein Recht ſetze, folglich auch nur ſo lange dieſe Einheit dauert; und daß im Fall der Willensänderung eines Theiles der Andere nur berechtigt iſt, die Wiederherſtellung des vorigen Zuſtandes zu fordern mit Einſchluß des Schadens, den er durch redliches Eingehen in den Willen des Mitcontrahenten in ſeinen bisherigen Rechten erduldet hat. Nur der allgemeine Wille, geſtützt auf gleiches Intereſſe und gleiche ſittliche Geſinnung, kann außerdem nach dem Vertrag Ein- zelner eine Verpflichtung zur directen dauernden Erfüllung desjeni- gen hinzufügen, was verſprochen worden iſt. Dazu beſitzt indeſſen bloß der Staat in ſich ſelbſt für die Individuen die Mittel; für das internationale Recht fehlt es an einer ſolchen Zwingmacht; der Vertrag hat demnach hier nur die angegebene natürliche Kraft und Bedeutung; eine beſondere Stütze findet er bloß im gegenſei- tigen Intereſſe, durch ſeine Vermittelung fortdauernd im Verkehr mit andern Staaten zu bleiben und neue Rechte zu erwerben; eine noch größere Garantie erhält er im Staatenſyſteme, wie das Eu- ropäiſche iſt, welches an ſich auf Gegenſeitigkeit und Willensüber- einſtimmung beruht, dem man folglich nur angehören kann, wenn man diejenigen Grundſätze von der verpflichtenden Kraft der 1) 1 Man ſehe die verſchiedenen Erklärungen in Warnkönig Rechtsphiloſophie §. 176. 1) v. Kamptz §. 239 ff. Unter den Syſtemen ſind beſonders beachtenswerth: Moſer, Verſ. VIII. de Neumann in Wolffsf. de pact. et contractib. Princip. 1752. Vattel II. ch. 12.

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Zitationshilfe: Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844/168>, abgerufen am 09.05.2024.