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Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844.

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Vorrede.
parteiischeren und gerechteren Urtheilsspruch, als ihn der höchste
Richterstuhl eines Landes abgeben kann --; Letzteres nicht,
weil die bloß äußerliche Willkühr kein Rechtsprincip zu er-
schaffen vermag, wenn ihr keine höhere Weihe zur Seite steht.
Den tieferen Grund alles Völkerrechts finde ich in dem ver-
nünftigen, d. h. auf der Nothwendigkeit des Gedankens be-
ruhenden Willen der Menschen, sobald er in ein gemeinsa-
mes Bewußtsein tritt, welches sich nicht blos in dem Ein-
zelstaate als Satzung geltend zu machen sucht, und das Ge-
setz zu seinem Diener auffordert, ja sich wohl selbst an die
Stelle des Gesetzes setzt, sondern auch unter Nationen, die
mit einander in Verkehr, in ein gesellschaftliches Verhältniß
treten, auf gleiche Weise als Bedingung davon erhebt. Wo
eine Gesellschaft ist, da ist auch ein Recht; der Staat selbst
ist der vernünftige Mensch der Gattung; treten mehrere iso-
lirte Nationen zusammen, so können sie nur auf dieser Basis
mit einander existiren; Ungleichartigkeiten in dem Bildungs-
grade, in dem Grade der Herrschaft, welche die Vernunft
über die Sinnlichkeit zu erlangen im Stande ist, werden zwar
die vollständige Entwickelung hemmen und einstweilen Modi-
ficationen erzeugen, aber die letzte und immerfort zu erstre-
bende Norm bleibt dasjenige, was wir als Inhalt der mensch-
lichen Freiheit im Verhältniß zu einander, unserer Natur und
ihrer Entwickelung in dem Staate gemäß, erkennen müssen.

Vielleicht konnte man von dem Völkerrecht des vorigen
Jahrhunderts sagen, daß es mehr nur in politischen Maximen
der Regierungen bestand, die man nach Convenienz als Rechts-
grundsätze aufstellte, aber auch wieder nach den Umständen ver-
leugnete oder modificirte. Darin aber ist ein großer Um-
schwung im jetzigen Jahrhundert eingetreten. Es sind nicht

Vorrede.
parteiiſcheren und gerechteren Urtheilsſpruch, als ihn der höchſte
Richterſtuhl eines Landes abgeben kann —; Letzteres nicht,
weil die bloß äußerliche Willkühr kein Rechtsprincip zu er-
ſchaffen vermag, wenn ihr keine höhere Weihe zur Seite ſteht.
Den tieferen Grund alles Völkerrechts finde ich in dem ver-
nünftigen, d. h. auf der Nothwendigkeit des Gedankens be-
ruhenden Willen der Menſchen, ſobald er in ein gemeinſa-
mes Bewußtſein tritt, welches ſich nicht blos in dem Ein-
zelſtaate als Satzung geltend zu machen ſucht, und das Ge-
ſetz zu ſeinem Diener auffordert, ja ſich wohl ſelbſt an die
Stelle des Geſetzes ſetzt, ſondern auch unter Nationen, die
mit einander in Verkehr, in ein geſellſchaftliches Verhältniß
treten, auf gleiche Weiſe als Bedingung davon erhebt. Wo
eine Geſellſchaft iſt, da iſt auch ein Recht; der Staat ſelbſt
iſt der vernünftige Menſch der Gattung; treten mehrere iſo-
lirte Nationen zuſammen, ſo können ſie nur auf dieſer Baſis
mit einander exiſtiren; Ungleichartigkeiten in dem Bildungs-
grade, in dem Grade der Herrſchaft, welche die Vernunft
über die Sinnlichkeit zu erlangen im Stande iſt, werden zwar
die vollſtändige Entwickelung hemmen und einſtweilen Modi-
ficationen erzeugen, aber die letzte und immerfort zu erſtre-
bende Norm bleibt dasjenige, was wir als Inhalt der menſch-
lichen Freiheit im Verhältniß zu einander, unſerer Natur und
ihrer Entwickelung in dem Staate gemäß, erkennen müſſen.

Vielleicht konnte man von dem Völkerrecht des vorigen
Jahrhunderts ſagen, daß es mehr nur in politiſchen Maximen
der Regierungen beſtand, die man nach Convenienz als Rechts-
grundſätze aufſtellte, aber auch wieder nach den Umſtänden ver-
leugnete oder modificirte. Darin aber iſt ein großer Um-
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[VI/0014] Vorrede. parteiiſcheren und gerechteren Urtheilsſpruch, als ihn der höchſte Richterſtuhl eines Landes abgeben kann —; Letzteres nicht, weil die bloß äußerliche Willkühr kein Rechtsprincip zu er- ſchaffen vermag, wenn ihr keine höhere Weihe zur Seite ſteht. Den tieferen Grund alles Völkerrechts finde ich in dem ver- nünftigen, d. h. auf der Nothwendigkeit des Gedankens be- ruhenden Willen der Menſchen, ſobald er in ein gemeinſa- mes Bewußtſein tritt, welches ſich nicht blos in dem Ein- zelſtaate als Satzung geltend zu machen ſucht, und das Ge- ſetz zu ſeinem Diener auffordert, ja ſich wohl ſelbſt an die Stelle des Geſetzes ſetzt, ſondern auch unter Nationen, die mit einander in Verkehr, in ein geſellſchaftliches Verhältniß treten, auf gleiche Weiſe als Bedingung davon erhebt. Wo eine Geſellſchaft iſt, da iſt auch ein Recht; der Staat ſelbſt iſt der vernünftige Menſch der Gattung; treten mehrere iſo- lirte Nationen zuſammen, ſo können ſie nur auf dieſer Baſis mit einander exiſtiren; Ungleichartigkeiten in dem Bildungs- grade, in dem Grade der Herrſchaft, welche die Vernunft über die Sinnlichkeit zu erlangen im Stande iſt, werden zwar die vollſtändige Entwickelung hemmen und einſtweilen Modi- ficationen erzeugen, aber die letzte und immerfort zu erſtre- bende Norm bleibt dasjenige, was wir als Inhalt der menſch- lichen Freiheit im Verhältniß zu einander, unſerer Natur und ihrer Entwickelung in dem Staate gemäß, erkennen müſſen. Vielleicht konnte man von dem Völkerrecht des vorigen Jahrhunderts ſagen, daß es mehr nur in politiſchen Maximen der Regierungen beſtand, die man nach Convenienz als Rechts- grundſätze aufſtellte, aber auch wieder nach den Umſtänden ver- leugnete oder modificirte. Darin aber iſt ein großer Um- ſchwung im jetzigen Jahrhundert eingetreten. Es ſind nicht

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Zitationshilfe: Heffter, August Wilhelm: Das Europäische Völkerrecht der Gegenwart. Berlin, 1844, S. VI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/heffter_voelkerrecht_1844/14>, abgerufen am 27.04.2024.