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Hebbel, Friedrich: Maria Magdalene. Hamburg, 1844.

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historischen Proceß, der in unseren Tagen vor sich
geht, und der die vorhandenen Institutionen des
menschlichen Geschlechts, die politischen, religiösen
und sittlichen, nicht umstürzen, sondern tiefer begrün-
den, sie also vor dem Umsturz sichern will, beendi-
gen helfen. In diesem Sinne soll sie, wie alle
Poesie, die sich nicht auf Superfötation und Ara-
beskenwesen beschränkt, zeitgemäß seyn, in diesem
Sinn, und in keinem andern, ist es jede echte,
in diesem Sinn habe auch ich im Vorwort zur
Genoveva meine Dramen als künstlerische Opfer
der Zeit
bezeichnet, denn ich bin mir bewußt, daß
die individuellen Lebens-Processe, die ich darstellte
und noch darstellen werde, mit den jetzt obschwe-
benden allgemeinen Principien-Fragen in engster
Verbindung stehen, und obgleich es mich nicht un-
angenehm berühren konnte, daß die Kritik bisher
fast ausschließlich meine Gestalten in's Auge faßte,
und die Ideen, die sie repräsentiren, unberücksich-
tigt ließ, indem ich hierin wohl nicht mit Unrecht
den besten Beweis für die wirkliche Lebendigkeit die-
ser Gestalten erblickte, so muß ich nun doch wün-
schen, daß dieß ein Ende nehmen, und daß man

hiſtoriſchen Proceß, der in unſeren Tagen vor ſich
geht, und der die vorhandenen Inſtitutionen des
menſchlichen Geſchlechts, die politiſchen, religiöſen
und ſittlichen, nicht umſtürzen, ſondern tiefer begrün-
den, ſie alſo vor dem Umſturz ſichern will, beendi-
gen helfen. In dieſem Sinne ſoll ſie, wie alle
Poeſie, die ſich nicht auf Superfötation und Ara-
beskenweſen beſchränkt, zeitgemäß ſeyn, in dieſem
Sinn, und in keinem andern, iſt es jede echte,
in dieſem Sinn habe auch ich im Vorwort zur
Genoveva meine Dramen als künſtleriſche Opfer
der Zeit
bezeichnet, denn ich bin mir bewußt, daß
die individuellen Lebens-Proceſſe, die ich darſtellte
und noch darſtellen werde, mit den jetzt obſchwe-
benden allgemeinen Principien-Fragen in engſter
Verbindung ſtehen, und obgleich es mich nicht un-
angenehm berühren konnte, daß die Kritik bisher
faſt ausſchließlich meine Geſtalten in’s Auge faßte,
und die Ideen, die ſie repräſentiren, unberückſich-
tigt ließ, indem ich hierin wohl nicht mit Unrecht
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[XVI/0036] hiſtoriſchen Proceß, der in unſeren Tagen vor ſich geht, und der die vorhandenen Inſtitutionen des menſchlichen Geſchlechts, die politiſchen, religiöſen und ſittlichen, nicht umſtürzen, ſondern tiefer begrün- den, ſie alſo vor dem Umſturz ſichern will, beendi- gen helfen. In dieſem Sinne ſoll ſie, wie alle Poeſie, die ſich nicht auf Superfötation und Ara- beskenweſen beſchränkt, zeitgemäß ſeyn, in dieſem Sinn, und in keinem andern, iſt es jede echte, in dieſem Sinn habe auch ich im Vorwort zur Genoveva meine Dramen als künſtleriſche Opfer der Zeit bezeichnet, denn ich bin mir bewußt, daß die individuellen Lebens-Proceſſe, die ich darſtellte und noch darſtellen werde, mit den jetzt obſchwe- benden allgemeinen Principien-Fragen in engſter Verbindung ſtehen, und obgleich es mich nicht un- angenehm berühren konnte, daß die Kritik bisher faſt ausſchließlich meine Geſtalten in’s Auge faßte, und die Ideen, die ſie repräſentiren, unberückſich- tigt ließ, indem ich hierin wohl nicht mit Unrecht den beſten Beweis für die wirkliche Lebendigkeit die- ſer Geſtalten erblickte, ſo muß ich nun doch wün- ſchen, daß dieß ein Ende nehmen, und daß man

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Zitationshilfe: Hebbel, Friedrich: Maria Magdalene. Hamburg, 1844, S. XVI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hebbel_magdalene_1844/36>, abgerufen am 29.03.2024.