Ein geräumiges, graugetünchtes Zimmer in Dreißigers Haus zu Peterswaldau. Der Raum, wo die Weber das fertige Ge- webe abzuliefern haben. Linker Hand sind Fenster ohne Gardinen, in der Hinterwand eine Glasthür, rechts eine eben- solche Glasthür, durch welche fortwährend Weber, Weberfrauen und Kinder ab- und zugehen. Längs der rechten Wand, die, wie die übrigen, größtentheils von Holzgestellen für Parchend verdeckt wird, zieht sich eine Bank, auf der die angekommenen Weber ihre Waare ausgebreitet haben. Jn der Reihenfolge der Ankunft treten sie vor und bieten ihre Waare zur Musterung. Expedient Pfeifer steht hinter einem großen Tisch, auf welchen die zu musternde Waare vom Weber gelegt wird. Er bedient sich bei der Schau eines Cirkels und einer Lupe. Jst er zu Ende mit der Untersuchung, so legt der Weber den Parchend auf die Wage, wo ein Comptoirlehrling sein Gewicht prüft. Die abgenommene Waare schiebt derselbe Lehrling in's Repositorium. Den zu zahlenden Lohnbetrag ruft Expedient Pfeifer dem an einem kleinen Tischchen sitzenden Kassirer Neumann jedesmal laut zu.
Es ist ein schwüler Tag gegen Ende Mai. Die Uhr zeigt zwölf. Die meisten der harrenden Webersleute gleichen Menschen, die vor die Schranken des Gerichts gestellt sind, wo sie in peinigender Gespanntheit eine Entscheidung über Tod und Leben zu erwarten haben. Hinwiederum haftet allen etwas Gedrücktes, dem Almosenempfänger Eigenthümliches an, der, von Demüthigung zu Demüthigung schreitend, im Bewußt- sein nur geduldet zu sein, sich so klein als möglich zu machen gewohnt ist. Dazu kommt ein starrer Zug resultatlosen, bohrenden Grübelns in aller Mienen. Die Männer, einander ähnelnd, halb zwerghaft, halb schulmeisterlich, sind in der Mehr- zahl flachbrüstige, hüstelnde, ärmliche Menschen mit schmutzig- blasser Gesichtsfarbe: Geschöpfe des Webstuhls, deren Kniee in Folge vielen Sitzens gekrümmt sind; ihre Weiber zeigen weniger Typisches auf den ersten Blick; sie sind aufgelöst, gehetzt, ab- getrieben, während die Männer eine gewisse klägliche Gravität noch zur Schau tragen -- und zerlumpt, wo die Männer
Ein geräumiges, graugetünchtes Zimmer in Dreißigers Haus zu Peterswaldau. Der Raum, wo die Weber das fertige Ge- webe abzuliefern haben. Linker Hand ſind Fenſter ohne Gardinen, in der Hinterwand eine Glasthür, rechts eine eben- ſolche Glasthür, durch welche fortwährend Weber, Weberfrauen und Kinder ab- und zugehen. Längs der rechten Wand, die, wie die übrigen, größtentheils von Holzgeſtellen für Parchend verdeckt wird, zieht ſich eine Bank, auf der die angekommenen Weber ihre Waare ausgebreitet haben. Jn der Reihenfolge der Ankunft treten ſie vor und bieten ihre Waare zur Muſterung. Expedient Pfeifer ſteht hinter einem großen Tiſch, auf welchen die zu muſternde Waare vom Weber gelegt wird. Er bedient ſich bei der Schau eines Cirkels und einer Lupe. Jſt er zu Ende mit der Unterſuchung, ſo legt der Weber den Parchend auf die Wage, wo ein Comptoirlehrling ſein Gewicht prüft. Die abgenommene Waare ſchiebt derſelbe Lehrling in’s Repoſitorium. Den zu zahlenden Lohnbetrag ruft Expedient Pfeifer dem an einem kleinen Tiſchchen ſitzenden Kaſſirer Neumann jedesmal laut zu.
Es iſt ein ſchwüler Tag gegen Ende Mai. Die Uhr zeigt zwölf. Die meiſten der harrenden Webersleute gleichen Menſchen, die vor die Schranken des Gerichts geſtellt ſind, wo ſie in peinigender Geſpanntheit eine Entſcheidung über Tod und Leben zu erwarten haben. Hinwiederum haftet allen etwas Gedrücktes, dem Almoſenempfänger Eigenthümliches an, der, von Demüthigung zu Demüthigung ſchreitend, im Bewußt- ſein nur geduldet zu ſein, ſich ſo klein als möglich zu machen gewohnt iſt. Dazu kommt ein ſtarrer Zug reſultatloſen, bohrenden Grübelns in aller Mienen. Die Männer, einander ähnelnd, halb zwerghaft, halb ſchulmeiſterlich, ſind in der Mehr- zahl flachbrüſtige, hüſtelnde, ärmliche Menſchen mit ſchmutzig- blaſſer Geſichtsfarbe: Geſchöpfe des Webſtuhls, deren Kniee in Folge vielen Sitzens gekrümmt ſind; ihre Weiber zeigen weniger Typiſches auf den erſten Blick; ſie ſind aufgelöſt, gehetzt, ab- getrieben, während die Männer eine gewiſſe klägliche Gravität noch zur Schau tragen — und zerlumpt, wo die Männer
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Ein geräumiges, graugetünchtes Zimmer in Dreißigers Haus
zu Peterswaldau. Der Raum, wo die Weber das fertige Ge-
webe abzuliefern haben. Linker Hand ſind Fenſter ohne
Gardinen, in der Hinterwand eine Glasthür, rechts eine eben-
ſolche Glasthür, durch welche fortwährend Weber, Weberfrauen
und Kinder ab- und zugehen. Längs der rechten Wand, die,
wie die übrigen, größtentheils von Holzgeſtellen für Parchend
verdeckt wird, zieht ſich eine Bank, auf der die angekommenen
Weber ihre Waare ausgebreitet haben. Jn der Reihenfolge
der Ankunft treten ſie vor und bieten ihre Waare zur Muſterung.
Expedient Pfeifer ſteht hinter einem großen Tiſch, auf welchen
die zu muſternde Waare vom Weber gelegt wird. Er bedient
ſich bei der Schau eines Cirkels und einer Lupe. Jſt er zu
Ende mit der Unterſuchung, ſo legt der Weber den Parchend auf
die Wage, wo ein Comptoirlehrling ſein Gewicht prüft. Die
abgenommene Waare ſchiebt derſelbe Lehrling in’s Repoſitorium.
Den zu zahlenden Lohnbetrag ruft Expedient Pfeifer dem an
einem kleinen Tiſchchen ſitzenden Kaſſirer Neumann jedesmal
laut zu.
Es iſt ein ſchwüler Tag gegen Ende Mai. Die Uhr
zeigt zwölf. Die meiſten der harrenden Webersleute gleichen
Menſchen, die vor die Schranken des Gerichts geſtellt ſind, wo
ſie in peinigender Geſpanntheit eine Entſcheidung über Tod
und Leben zu erwarten haben. Hinwiederum haftet allen
etwas Gedrücktes, dem Almoſenempfänger Eigenthümliches an,
der, von Demüthigung zu Demüthigung ſchreitend, im Bewußt-
ſein nur geduldet zu ſein, ſich ſo klein als möglich zu machen
gewohnt iſt. Dazu kommt ein ſtarrer Zug reſultatloſen,
bohrenden Grübelns in aller Mienen. Die Männer, einander
ähnelnd, halb zwerghaft, halb ſchulmeiſterlich, ſind in der Mehr-
zahl flachbrüſtige, hüſtelnde, ärmliche Menſchen mit ſchmutzig-
blaſſer Geſichtsfarbe: Geſchöpfe des Webſtuhls, deren Kniee in
Folge vielen Sitzens gekrümmt ſind; ihre Weiber zeigen weniger
Typiſches auf den erſten Blick; ſie ſind aufgelöſt, gehetzt, ab-
getrieben, während die Männer eine gewiſſe klägliche Gravität
noch zur Schau tragen — und zerlumpt, wo die Männer
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Die Weber sind zu Beginn auf schlesisch erschiene… [mehr]
Die Weber sind zu Beginn auf schlesisch erschienen (De Waber), und im gleichen Jahr in einer dem Hochdeutsch angenäherten Fassung publiziert worden. Bei der vorliegenden Ausgabe handelt es sich um die erste hochdeutsche Fassung.
Hauptmann, Gerhart: Die Weber. Berlin, 1892, S. [5]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hauptmann_weber_1892/18>, abgerufen am 07.07.2024.
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