auch nur den oberflächlichsten Begriff von ihrer eigenen Organisation und von der Gesundheitslehre erhalten zu haben. Wie! ihr habt Jahre lang eure Schüler unzählige Stunden sitzen lassen, unter dem Vorwande ihren Geist zu cultiviren; sie haben von euch lernen müssen, wie es vor 2000 Jahren in Rom und Athen aussah; sie kennen dem Namen nach alle Provinzen und alle Städte der Welt, sind in den feinsten Nuancen der lateinischen und griechischen Grammatik bewan- dert, und wissen von ihrem eigenen Körper nichts, nichts von den Nerven, von der Blutcirculation, von dem Knochenbau, von den Muskeln, nichts von ihrem eigenen Wunderbau! Die Gesetze des Solon und des Lykurg, welche gesunde Staaten gründeten, sind ihnen bekannt, nicht aber die Gesetze, nach welchen sie ihre eigene Gesundheit erhalten und befestigen können! Dünken euch jene so viel wichtiger als diese?
"Es ist in der That," sagt Lichtenberg, "ein sehr blindes und unsern aufgeklärten Zeiten sehr un- angemessenes Vorurtheil, daß wir die Geographie und die römische Geschichte eher lernen als die Physio- logie und Anatomie, ja die heidnische Fabellehre eher, als diese für Menschen beinahe so unentbehrliche Wissenschaft, daß sie nächst der Religion sollte ge- lehrt werden.
Jch glaube, daß einem höhern Geschöpf, als wir Menschen sind, dieses das reizendste Schauspiel
auch nur den oberflaͤchlichſten Begriff von ihrer eigenen Organiſation und von der Geſundheitslehre erhalten zu haben. Wie! ihr habt Jahre lang eure Schuͤler unzaͤhlige Stunden ſitzen laſſen, unter dem Vorwande ihren Geiſt zu cultiviren; ſie haben von euch lernen müſſen, wie es vor 2000 Jahren in Rom und Athen ausſah; ſie kennen dem Namen nach alle Provinzen und alle Staͤdte der Welt, ſind in den feinſten Nuancen der lateiniſchen und griechiſchen Grammatik bewan- dert, und wiſſen von ihrem eigenen Koͤrper nichts, nichts von den Nerven, von der Blutcirculation, von dem Knochenbau, von den Muskeln, nichts von ihrem eigenen Wunderbau! Die Geſetze des Solon und des Lykurg, welche geſunde Staaten gruͤndeten, ſind ihnen bekannt, nicht aber die Geſetze, nach welchen ſie ihre eigene Geſundheit erhalten und befeſtigen koͤnnen! Duͤnken euch jene ſo viel wichtiger als dieſe?
»Es iſt in der That,« ſagt Lichtenberg, »ein ſehr blindes und unſern aufgeklaͤrten Zeiten ſehr un- angemeſſenes Vorurtheil, daß wir die Geographie und die roͤmiſche Geſchichte eher lernen als die Phyſio- logie und Anatomie, ja die heidniſche Fabellehre eher, als dieſe für Menſchen beinahe ſo unentbehrliche Wiſſenſchaft, daß ſie naͤchſt der Religion ſollte ge- lehrt werden.
Jch glaube, daß einem hoͤhern Geſchoͤpf, als wir Menſchen ſind, dieſes das reizendſte Schauſpiel
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0140"n="130"/>
auch nur den oberflaͤchlichſten Begriff von ihrer eigenen<lb/>
Organiſation und von der Geſundheitslehre erhalten<lb/>
zu haben. Wie! ihr habt Jahre lang eure Schuͤler<lb/>
unzaͤhlige Stunden ſitzen laſſen, unter dem Vorwande<lb/>
ihren Geiſt zu cultiviren; ſie haben von euch lernen<lb/>
müſſen, wie es vor 2000 Jahren in Rom und Athen<lb/>
ausſah; ſie kennen dem Namen nach alle Provinzen<lb/>
und alle Staͤdte der Welt, ſind in den feinſten Nuancen<lb/>
der lateiniſchen und griechiſchen Grammatik bewan-<lb/>
dert, und wiſſen von ihrem eigenen Koͤrper nichts,<lb/>
nichts von den Nerven, von der Blutcirculation,<lb/>
von dem Knochenbau, von den Muskeln, nichts von<lb/>
ihrem eigenen Wunderbau! Die Geſetze des Solon<lb/>
und des Lykurg, welche geſunde Staaten gruͤndeten,<lb/>ſind ihnen bekannt, nicht aber die Geſetze, nach welchen<lb/>ſie ihre eigene Geſundheit erhalten und befeſtigen<lb/>
koͤnnen! Duͤnken euch jene ſo viel wichtiger als dieſe?</p><lb/><p>»Es iſt in der That,« ſagt Lichtenberg, »ein<lb/>ſehr blindes und unſern aufgeklaͤrten Zeiten ſehr un-<lb/>
angemeſſenes Vorurtheil, daß wir die Geographie und<lb/>
die roͤmiſche Geſchichte eher lernen als die Phyſio-<lb/>
logie und Anatomie, ja die heidniſche Fabellehre eher,<lb/>
als dieſe für Menſchen beinahe ſo unentbehrliche<lb/>
Wiſſenſchaft, daß ſie naͤchſt der Religion ſollte ge-<lb/>
lehrt werden.</p><lb/><p>Jch glaube, daß einem hoͤhern Geſchoͤpf, als<lb/>
wir Menſchen ſind, dieſes das reizendſte Schauſpiel<lb/></p></div></body></text></TEI>
[130/0140]
auch nur den oberflaͤchlichſten Begriff von ihrer eigenen
Organiſation und von der Geſundheitslehre erhalten
zu haben. Wie! ihr habt Jahre lang eure Schuͤler
unzaͤhlige Stunden ſitzen laſſen, unter dem Vorwande
ihren Geiſt zu cultiviren; ſie haben von euch lernen
müſſen, wie es vor 2000 Jahren in Rom und Athen
ausſah; ſie kennen dem Namen nach alle Provinzen
und alle Staͤdte der Welt, ſind in den feinſten Nuancen
der lateiniſchen und griechiſchen Grammatik bewan-
dert, und wiſſen von ihrem eigenen Koͤrper nichts,
nichts von den Nerven, von der Blutcirculation,
von dem Knochenbau, von den Muskeln, nichts von
ihrem eigenen Wunderbau! Die Geſetze des Solon
und des Lykurg, welche geſunde Staaten gruͤndeten,
ſind ihnen bekannt, nicht aber die Geſetze, nach welchen
ſie ihre eigene Geſundheit erhalten und befeſtigen
koͤnnen! Duͤnken euch jene ſo viel wichtiger als dieſe?
»Es iſt in der That,« ſagt Lichtenberg, »ein
ſehr blindes und unſern aufgeklaͤrten Zeiten ſehr un-
angemeſſenes Vorurtheil, daß wir die Geographie und
die roͤmiſche Geſchichte eher lernen als die Phyſio-
logie und Anatomie, ja die heidniſche Fabellehre eher,
als dieſe für Menſchen beinahe ſo unentbehrliche
Wiſſenſchaft, daß ſie naͤchſt der Religion ſollte ge-
lehrt werden.
Jch glaube, daß einem hoͤhern Geſchoͤpf, als
wir Menſchen ſind, dieſes das reizendſte Schauſpiel
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Hartwig, Georg Ludwig: Die physische Erziehung der Kinder. Düsseldorf, 1847, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hartwig_erziehung_1847/140>, abgerufen am 22.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.