machen. Erhebt sie über die gewöhnlichen Vorur- theile und macht sie darauf aufmerksam, daß die Götter unmöglich großen Werth auf Reichthümer legen können, da sie dieselben so oft dem Abschaum der Menschheit zuwerfen. Nicht den Crösus eurer Nachbarschaft sollen sie sich zum Muster wählen, sondern den gesundesten verständigsten Menschen, den ihr kennt: nicht den Reichsten sollen sie als den Glück- lichsten schätzen, sondern den, dessen lebensfroher Sinn das Leben am Vielseitigsten genießt.
Vor allen Dingen bedenkt, daß eine weichliche Erziehung die allerschlechteste ist, die ihr ihnen geben könnt. Jhr macht sie dadurch unfähig den Stürmen ihres spätern Lebens zu widerstehen, vermehrt die Gefahren, die ihnen drohen, und vermindert doppelt grausam die Genüsse, die sie erwarten. "Die Mutter," sagt Rousseau, "die aus übertriebener Liebe ihr Kind zu ihrem Abgott macht, die seine Schwäche vermehrt, damit es sie nicht fühlen soll, und in der Hoffnung, es den Gesetzen der Natur zu entziehen, alles Un- angenehme sorgfältig von ihm entfernt: sie denkt nicht daran, wie sie einer augenblicklichen Schonung wegen, tausend Gefahren über sein liebes Haupt zu- sammenzieht, und wie grausam es ist, die Schwäche der Kindheit bis in die Mittagsschwüle des männ- lichen Alters hinüberzuleiten. Um ihren Sohn un- verwundbar zu machen, tauchte ihn Thetis, so sagt
machen. Erhebt ſie uͤber die gewoͤhnlichen Vorur- theile und macht ſie darauf aufmerkſam, daß die Goͤtter unmoͤglich großen Werth auf Reichthuͤmer legen koͤnnen, da ſie dieſelben ſo oft dem Abſchaum der Menſchheit zuwerfen. Nicht den Croͤſus eurer Nachbarſchaft ſollen ſie ſich zum Muſter waͤhlen, ſondern den geſundeſten verſtaͤndigſten Menſchen, den ihr kennt: nicht den Reichſten ſollen ſie als den Gluͤck- lichſten ſchaͤtzen, ſondern den, deſſen lebensfroher Sinn das Leben am Vielſeitigſten genießt.
Vor allen Dingen bedenkt, daß eine weichliche Erziehung die allerſchlechteſte iſt, die ihr ihnen geben koͤnnt. Jhr macht ſie dadurch unfaͤhig den Stuͤrmen ihres ſpaͤtern Lebens zu widerſtehen, vermehrt die Gefahren, die ihnen drohen, und vermindert doppelt grauſam die Genuͤſſe, die ſie erwarten. »Die Mutter,« ſagt Rouſſeau, »die aus übertriebener Liebe ihr Kind zu ihrem Abgott macht, die ſeine Schwaͤche vermehrt, damit es ſie nicht fühlen ſoll, und in der Hoffnung, es den Geſetzen der Natur zu entziehen, alles Un- angenehme ſorgfaͤltig von ihm entfernt: ſie denkt nicht daran, wie ſie einer augenblicklichen Schonung wegen, tauſend Gefahren über ſein liebes Haupt zu- ſammenzieht, und wie grauſam es iſt, die Schwaͤche der Kindheit bis in die Mittagsſchwuͤle des maͤnn- lichen Alters hinuͤberzuleiten. Um ihren Sohn un- verwundbar zu machen, tauchte ihn Thetis, ſo ſagt
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machen. Erhebt ſie uͤber die gewoͤhnlichen Vorur-
theile und macht ſie darauf aufmerkſam, daß die
Goͤtter unmoͤglich großen Werth auf Reichthuͤmer
legen koͤnnen, da ſie dieſelben ſo oft dem Abſchaum
der Menſchheit zuwerfen. Nicht den Croͤſus eurer
Nachbarſchaft ſollen ſie ſich zum Muſter waͤhlen,
ſondern den geſundeſten verſtaͤndigſten Menſchen, den
ihr kennt: nicht den Reichſten ſollen ſie als den Gluͤck-
lichſten ſchaͤtzen, ſondern den, deſſen lebensfroher
Sinn das Leben am Vielſeitigſten genießt.
Vor allen Dingen bedenkt, daß eine weichliche
Erziehung die allerſchlechteſte iſt, die ihr ihnen geben
koͤnnt. Jhr macht ſie dadurch unfaͤhig den Stuͤrmen
ihres ſpaͤtern Lebens zu widerſtehen, vermehrt die
Gefahren, die ihnen drohen, und vermindert doppelt
grauſam die Genuͤſſe, die ſie erwarten. »Die Mutter,«
ſagt Rouſſeau, »die aus übertriebener Liebe ihr Kind
zu ihrem Abgott macht, die ſeine Schwaͤche vermehrt,
damit es ſie nicht fühlen ſoll, und in der Hoffnung,
es den Geſetzen der Natur zu entziehen, alles Un-
angenehme ſorgfaͤltig von ihm entfernt: ſie denkt
nicht daran, wie ſie einer augenblicklichen Schonung
wegen, tauſend Gefahren über ſein liebes Haupt zu-
ſammenzieht, und wie grauſam es iſt, die Schwaͤche
der Kindheit bis in die Mittagsſchwuͤle des maͤnn-
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Hartwig, Georg Ludwig: Die physische Erziehung der Kinder. Düsseldorf, 1847, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hartwig_erziehung_1847/14>, abgerufen am 22.07.2024.
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