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[Hamann, Johann Georg]: Sokratische Denkwürdigkeiten. Amsterdam [i. e. Königsberg], 1759.

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woran es den Juden und Griechen so wenig
fehlte als unsern Christen und Muselmän-
nern, stieß sich daran, daß der Schönste
unter den Menschenkindern
ihnen zum
Erlöser versprochen war, und daß ein Mann
der Schmerzen, voller Wunden und Strie-
men, der Held ihrer Erwartung seyn sollte.
Die Heyden waren durch die klugen Fabeln
ihrer Dichter an dergleichen Wiedersprüchen
gewohnt; bis ihre Sophisten, wie unsere,
solche als einen Vatermord verdammten, den
man an den ersten Grundsätzen der mensch-
lichen Erkenntnis begeht.

Von solchem Wiederspruch finden wir ein
Beyspiel an dem Delphischen Orakel, das
denjenigen für den weisesten erkannte, der
gleichwol von sich gestand, daß er nichts
wisse. Strafte Sokrates das Orakel Lügen,
oder das Orakel ihn? Die stärksten Geister
unserer Zeit haben für diesmal die Prieste-

rinn
C 2

woran es den Juden und Griechen ſo wenig
fehlte als unſern Chriſten und Muſelmaͤn-
nern, ſtieß ſich daran, daß der Schoͤnſte
unter den Menſchenkindern
ihnen zum
Erloͤſer verſprochen war, und daß ein Mann
der Schmerzen, voller Wunden und Strie-
men, der Held ihrer Erwartung ſeyn ſollte.
Die Heyden waren durch die klugen Fabeln
ihrer Dichter an dergleichen Wiederſpruͤchen
gewohnt; bis ihre Sophiſten, wie unſere,
ſolche als einen Vatermord verdammten, den
man an den erſten Grundſaͤtzen der menſch-
lichen Erkenntnis begeht.

Von ſolchem Wiederſpruch finden wir ein
Beyſpiel an dem Delphiſchen Orakel, das
denjenigen fuͤr den weiſeſten erkannte, der
gleichwol von ſich geſtand, daß er nichts
wiſſe. Strafte Sokrates das Orakel Luͤgen,
oder das Orakel ihn? Die ſtaͤrkſten Geiſter
unſerer Zeit haben fuͤr diesmal die Prieſte-

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[35/0039] woran es den Juden und Griechen ſo wenig fehlte als unſern Chriſten und Muſelmaͤn- nern, ſtieß ſich daran, daß der Schoͤnſte unter den Menſchenkindern ihnen zum Erloͤſer verſprochen war, und daß ein Mann der Schmerzen, voller Wunden und Strie- men, der Held ihrer Erwartung ſeyn ſollte. Die Heyden waren durch die klugen Fabeln ihrer Dichter an dergleichen Wiederſpruͤchen gewohnt; bis ihre Sophiſten, wie unſere, ſolche als einen Vatermord verdammten, den man an den erſten Grundſaͤtzen der menſch- lichen Erkenntnis begeht. Von ſolchem Wiederſpruch finden wir ein Beyſpiel an dem Delphiſchen Orakel, das denjenigen fuͤr den weiſeſten erkannte, der gleichwol von ſich geſtand, daß er nichts wiſſe. Strafte Sokrates das Orakel Luͤgen, oder das Orakel ihn? Die ſtaͤrkſten Geiſter unſerer Zeit haben fuͤr diesmal die Prieſte- rinn C 2

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Zitationshilfe: [Hamann, Johann Georg]: Sokratische Denkwürdigkeiten. Amsterdam [i. e. Königsberg], 1759, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/hamann_denkwuerdigkeiten_1759/39>, abgerufen am 24.11.2024.