Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite

II. Abschnitt. Erscheinungen.
Stehens, wozu zurükkgezogne, und ausgestrekkte Hüften
gehören, daß die Ausstrekker der Hüfte stärker waren,
und dieses gilt auch von der Natur des Schienbeinsge-
lenkes, welches ganz und gar nicht nach vorne nachzuge-
ben vermag, hingegen sich leicht zurükke beugen lässet.

Demohngeachtet können wir doch überhaupt zugeben,
daß die widrigen Muskeln einander das Gleichgewicht
halten; und wenn die eine Art hierinnen vor der andern
einen Vorzug besizzet, so biegt sich, nach dem Maaße
ihrer Kraft, das Glied gegen diese Theile hin.

Nun verstärkt aber die Nervenkraft die dem einen
unter den Gegnern angeborne Kraft, wie am Ausdehner
geschicht. Folglich wird der Widerstand des Beugemus-
kels, als ob man in die eine Wagschale ein neues Gewicht
würfe, überwältigt, und das Glied dieser neuen Nerven-
kraft gemäs, die der Ausstrekker zum Ueberschusse bekom-
men, ausgestrekkt. Solchergestalt entsteht nicht plözzlich
eine Kraft, die den Ausstrekker auf bliese, und alle dessen
Grundstoffe zum Zusammenziehen vermöchte. Sondern
diese Kräfte bekommen nur ein Uebergewicht, und es
wird von diesem Uebergewichte kein völliges Zusammen-
ziehen des Ausstrekkers, durch alle seine Grundteile, in
so kurzer Zeit erfordert, indem diese Kraft vorlängst im
Muskel war, sondern es ist nur dazu einiges Uebermaas
an Kraft notwendig (z). Dennoch wird auf diese Weise
zur Zeit noch keine Kraft erspart, ob die Geschwindigkeit
des Muskelspiels gleich dadurch sehr vergrössert wird, und
dennoch ist blos die neu erzeugte Nervenkraft wirksam
übrig.

Hingegen würden die Kräfte wirklich erspart werden
können, wenn man ausserdem zugeben wollte, daß durch
die, dem Ausstrekker zugeteilte Kraft, etwas von der
zusammenziehenden Kraft des Beugemuskels abgenom-

men
(z) BOERHAAVE praelect. T. III. p. 386. sqq.

II. Abſchnitt. Erſcheinungen.
Stehens, wozu zuruͤkkgezogne, und ausgeſtrekkte Huͤften
gehoͤren, daß die Ausſtrekker der Huͤfte ſtaͤrker waren,
und dieſes gilt auch von der Natur des Schienbeinsge-
lenkes, welches ganz und gar nicht nach vorne nachzuge-
ben vermag, hingegen ſich leicht zuruͤkke beugen laͤſſet.

Demohngeachtet koͤnnen wir doch uͤberhaupt zugeben,
daß die widrigen Muſkeln einander das Gleichgewicht
halten; und wenn die eine Art hierinnen vor der andern
einen Vorzug beſizzet, ſo biegt ſich, nach dem Maaße
ihrer Kraft, das Glied gegen dieſe Theile hin.

Nun verſtaͤrkt aber die Nervenkraft die dem einen
unter den Gegnern angeborne Kraft, wie am Ausdehner
geſchicht. Folglich wird der Widerſtand des Beugemuſ-
kels, als ob man in die eine Wagſchale ein neues Gewicht
wuͤrfe, uͤberwaͤltigt, und das Glied dieſer neuen Nerven-
kraft gemaͤs, die der Ausſtrekker zum Ueberſchuſſe bekom-
men, ausgeſtrekkt. Solchergeſtalt entſteht nicht ploͤzzlich
eine Kraft, die den Ausſtrekker auf blieſe, und alle deſſen
Grundſtoffe zum Zuſammenziehen vermoͤchte. Sondern
dieſe Kraͤfte bekommen nur ein Uebergewicht, und es
wird von dieſem Uebergewichte kein voͤlliges Zuſammen-
ziehen des Ausſtrekkers, durch alle ſeine Grundteile, in
ſo kurzer Zeit erfordert, indem dieſe Kraft vorlaͤngſt im
Muſkel war, ſondern es iſt nur dazu einiges Uebermaas
an Kraft notwendig (z). Dennoch wird auf dieſe Weiſe
zur Zeit noch keine Kraft erſpart, ob die Geſchwindigkeit
des Muſkelſpiels gleich dadurch ſehr vergroͤſſert wird, und
dennoch iſt blos die neu erzeugte Nervenkraft wirkſam
uͤbrig.

Hingegen wuͤrden die Kraͤfte wirklich erſpart werden
koͤnnen, wenn man auſſerdem zugeben wollte, daß durch
die, dem Ausſtrekker zugeteilte Kraft, etwas von der
zuſammenziehenden Kraft des Beugemuſkels abgenom-

men
(z) BOERHAAVE prælect. T. III. p. 386. ſqq.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0127" n="109"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">II.</hi> Ab&#x017F;chnitt. Er&#x017F;cheinungen.</hi></fw><lb/>
Stehens, wozu zuru&#x0364;kkgezogne, und ausge&#x017F;trekkte Hu&#x0364;ften<lb/>
geho&#x0364;ren, daß die Aus&#x017F;trekker der Hu&#x0364;fte &#x017F;ta&#x0364;rker waren,<lb/>
und die&#x017F;es gilt auch von der Natur des Schienbeinsge-<lb/>
lenkes, welches ganz und gar nicht nach vorne nachzuge-<lb/>
ben vermag, hingegen &#x017F;ich leicht zuru&#x0364;kke beugen la&#x0364;&#x017F;&#x017F;et.</p><lb/>
          <p>Demohngeachtet ko&#x0364;nnen wir doch u&#x0364;berhaupt zugeben,<lb/>
daß die widrigen Mu&#x017F;keln einander das Gleichgewicht<lb/>
halten; und wenn die eine Art hierinnen vor der andern<lb/>
einen Vorzug be&#x017F;izzet, &#x017F;o biegt &#x017F;ich, nach dem Maaße<lb/>
ihrer Kraft, das Glied gegen die&#x017F;e Theile hin.</p><lb/>
          <p>Nun ver&#x017F;ta&#x0364;rkt aber die Nervenkraft die dem einen<lb/>
unter den Gegnern angeborne Kraft, wie am Ausdehner<lb/>
ge&#x017F;chicht. Folglich wird der Wider&#x017F;tand des Beugemu&#x017F;-<lb/>
kels, als ob man in die eine Wag&#x017F;chale ein neues Gewicht<lb/>
wu&#x0364;rfe, u&#x0364;berwa&#x0364;ltigt, und das Glied die&#x017F;er neuen Nerven-<lb/>
kraft gema&#x0364;s, die der Aus&#x017F;trekker zum Ueber&#x017F;chu&#x017F;&#x017F;e bekom-<lb/>
men, ausge&#x017F;trekkt. Solcherge&#x017F;talt ent&#x017F;teht nicht plo&#x0364;zzlich<lb/>
eine Kraft, die den Aus&#x017F;trekker auf blie&#x017F;e, und alle de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Grund&#x017F;toffe zum Zu&#x017F;ammenziehen vermo&#x0364;chte. Sondern<lb/>
die&#x017F;e Kra&#x0364;fte bekommen nur ein Uebergewicht, und es<lb/>
wird von die&#x017F;em Uebergewichte kein vo&#x0364;lliges Zu&#x017F;ammen-<lb/>
ziehen des Aus&#x017F;trekkers, durch alle &#x017F;eine Grundteile, in<lb/>
&#x017F;o kurzer Zeit erfordert, indem die&#x017F;e Kraft vorla&#x0364;ng&#x017F;t im<lb/>
Mu&#x017F;kel war, &#x017F;ondern es i&#x017F;t nur dazu einiges Uebermaas<lb/>
an Kraft notwendig <note place="foot" n="(z)"><hi rendition="#aq"><hi rendition="#g">BOERHAAVE</hi> prælect. T. III. p. 386. &#x017F;qq.</hi></note>. Dennoch wird auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e<lb/>
zur Zeit noch keine Kraft er&#x017F;part, ob die Ge&#x017F;chwindigkeit<lb/>
des Mu&#x017F;kel&#x017F;piels gleich dadurch &#x017F;ehr vergro&#x0364;&#x017F;&#x017F;ert wird, und<lb/>
dennoch i&#x017F;t blos die neu erzeugte Nervenkraft wirk&#x017F;am<lb/>
u&#x0364;brig.</p><lb/>
          <p>Hingegen wu&#x0364;rden die Kra&#x0364;fte wirklich er&#x017F;part werden<lb/>
ko&#x0364;nnen, wenn man au&#x017F;&#x017F;erdem zugeben wollte, daß durch<lb/>
die, dem Aus&#x017F;trekker zugeteilte Kraft, etwas von der<lb/>
zu&#x017F;ammenziehenden Kraft des Beugemu&#x017F;kels abgenom-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">men</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[109/0127] II. Abſchnitt. Erſcheinungen. Stehens, wozu zuruͤkkgezogne, und ausgeſtrekkte Huͤften gehoͤren, daß die Ausſtrekker der Huͤfte ſtaͤrker waren, und dieſes gilt auch von der Natur des Schienbeinsge- lenkes, welches ganz und gar nicht nach vorne nachzuge- ben vermag, hingegen ſich leicht zuruͤkke beugen laͤſſet. Demohngeachtet koͤnnen wir doch uͤberhaupt zugeben, daß die widrigen Muſkeln einander das Gleichgewicht halten; und wenn die eine Art hierinnen vor der andern einen Vorzug beſizzet, ſo biegt ſich, nach dem Maaße ihrer Kraft, das Glied gegen dieſe Theile hin. Nun verſtaͤrkt aber die Nervenkraft die dem einen unter den Gegnern angeborne Kraft, wie am Ausdehner geſchicht. Folglich wird der Widerſtand des Beugemuſ- kels, als ob man in die eine Wagſchale ein neues Gewicht wuͤrfe, uͤberwaͤltigt, und das Glied dieſer neuen Nerven- kraft gemaͤs, die der Ausſtrekker zum Ueberſchuſſe bekom- men, ausgeſtrekkt. Solchergeſtalt entſteht nicht ploͤzzlich eine Kraft, die den Ausſtrekker auf blieſe, und alle deſſen Grundſtoffe zum Zuſammenziehen vermoͤchte. Sondern dieſe Kraͤfte bekommen nur ein Uebergewicht, und es wird von dieſem Uebergewichte kein voͤlliges Zuſammen- ziehen des Ausſtrekkers, durch alle ſeine Grundteile, in ſo kurzer Zeit erfordert, indem dieſe Kraft vorlaͤngſt im Muſkel war, ſondern es iſt nur dazu einiges Uebermaas an Kraft notwendig (z). Dennoch wird auf dieſe Weiſe zur Zeit noch keine Kraft erſpart, ob die Geſchwindigkeit des Muſkelſpiels gleich dadurch ſehr vergroͤſſert wird, und dennoch iſt blos die neu erzeugte Nervenkraft wirkſam uͤbrig. Hingegen wuͤrden die Kraͤfte wirklich erſpart werden koͤnnen, wenn man auſſerdem zugeben wollte, daß durch die, dem Ausſtrekker zugeteilte Kraft, etwas von der zuſammenziehenden Kraft des Beugemuſkels abgenom- men (z) BOERHAAVE prælect. T. III. p. 386. ſqq.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/127
Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/127>, abgerufen am 07.05.2024.