diese dehnt er seine Hoffnungen aus, und diese zieht er dem Gegenwärtigen vor. Wir arbeiten alle, wie Horaz längst erinnert hat, nicht damit es uns jezzo, sondern künftig wohlgehe, damit auch unsre Kinder, Nachkom- men, Nebenbürger, und das Vaterland Nuzzen daraus ziehen möge, zu welchem der Schöpfer einigen Völkern eine bewundernswürdige Zuneigung eingeflöst hat. Eben diese Hoffnung ist der Grund der ganzen Religion, und Religionen, und sie befiehlt uns die gegenwärtige Lüste zu bezähmen, damit sie uns nicht in ein künftiges Elend stürzen mögen. Man siehet aber auch leicht ein, daß man diese Hoffnung durch Aufmerksamkeit und öftere Betrach- tungen derjenigen Begriffe unterhalten müsse, worauf sie sich gründet. Wenn dieses unterlassen wird, so verfallen wir wieder unter die Herrschaft der gegenwärtigen Wol- lust, wodurch die Hoffnung des Künftigen träge gemacht wird. Dies ist das: ich sehe das Bessere vor mir, und gebe ihm meinen Beifall; und dennoch folge ich dem Schlechtern.
Der zweete Jnstinkt, wovon wir bei den Thieren we- nige, im Hunde aber einige Spuren antreffen, ist die Neugierde, oder die Begierde etwas Neues zu lernen, und diese sezzt auch den Menschen ausser sich, daß er sein Vaterland vergiest und auf unwegsamen Meeren und durch tausend Gefahren seine Neugierde zu stillen sucht. Die- ses ist ebenfalls ein starker Beweis von der göttlichen Weis- heit. Da die Thiere auf wenig Pflanzen und etliche an- dre Thiere, um diese zu zerreissen, eingeschränkt sind, und da der Schauplazz der Natur nicht ohne Zuschauer sein sollte, so ist der Mensch allein übrig, die Wunder der körperlichen Welt zu beschauen. Jhn hat also Gott zu dieser Verrichtung mit diesem Jnstinkte versehen, den die Europäer vor andren Völkern in stärkerem Grade besiz- zen. Man könnte zwar den Ursprung desselben in dem Verdrusse über den gegenwärtigen Zustand, und in der Ermüdung der Faser von einerlei fortgesezzten Biegung
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Der Wille. XVII. Buch.
dieſe dehnt er ſeine Hoffnungen aus, und dieſe zieht er dem Gegenwaͤrtigen vor. Wir arbeiten alle, wie Horaz laͤngſt erinnert hat, nicht damit es uns jezzo, ſondern kuͤnftig wohlgehe, damit auch unſre Kinder, Nachkom- men, Nebenbuͤrger, und das Vaterland Nuzzen daraus ziehen moͤge, zu welchem der Schoͤpfer einigen Voͤlkern eine bewundernswuͤrdige Zuneigung eingefloͤſt hat. Eben dieſe Hoffnung iſt der Grund der ganzen Religion, und Religionen, und ſie befiehlt uns die gegenwaͤrtige Luͤſte zu bezaͤhmen, damit ſie uns nicht in ein kuͤnftiges Elend ſtuͤrzen moͤgen. Man ſiehet aber auch leicht ein, daß man dieſe Hoffnung durch Aufmerkſamkeit und oͤftere Betrach- tungen derjenigen Begriffe unterhalten muͤſſe, worauf ſie ſich gruͤndet. Wenn dieſes unterlaſſen wird, ſo verfallen wir wieder unter die Herrſchaft der gegenwaͤrtigen Wol- luſt, wodurch die Hoffnung des Kuͤnftigen traͤge gemacht wird. Dies iſt das: ich ſehe das Beſſere vor mir, und gebe ihm meinen Beifall; und dennoch folge ich dem Schlechtern.
Der zweete Jnſtinkt, wovon wir bei den Thieren we- nige, im Hunde aber einige Spuren antreffen, iſt die Neugierde, oder die Begierde etwas Neues zu lernen, und dieſe ſezzt auch den Menſchen auſſer ſich, daß er ſein Vaterland vergieſt und auf unwegſamen Meeren und durch tauſend Gefahren ſeine Neugierde zu ſtillen ſucht. Die- ſes iſt ebenfalls ein ſtarker Beweis von der goͤttlichen Weis- heit. Da die Thiere auf wenig Pflanzen und etliche an- dre Thiere, um dieſe zu zerreiſſen, eingeſchraͤnkt ſind, und da der Schauplazz der Natur nicht ohne Zuſchauer ſein ſollte, ſo iſt der Menſch allein uͤbrig, die Wunder der koͤrperlichen Welt zu beſchauen. Jhn hat alſo Gott zu dieſer Verrichtung mit dieſem Jnſtinkte verſehen, den die Europaͤer vor andren Voͤlkern in ſtaͤrkerem Grade beſiz- zen. Man koͤnnte zwar den Urſprung deſſelben in dem Verdruſſe uͤber den gegenwaͤrtigen Zuſtand, und in der Ermuͤdung der Faſer von einerlei fortgeſezzten Biegung
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Der Wille. XVII. Buch.
dieſe dehnt er ſeine Hoffnungen aus, und dieſe zieht er
dem Gegenwaͤrtigen vor. Wir arbeiten alle, wie Horaz
laͤngſt erinnert hat, nicht damit es uns jezzo, ſondern
kuͤnftig wohlgehe, damit auch unſre Kinder, Nachkom-
men, Nebenbuͤrger, und das Vaterland Nuzzen daraus
ziehen moͤge, zu welchem der Schoͤpfer einigen Voͤlkern
eine bewundernswuͤrdige Zuneigung eingefloͤſt hat. Eben
dieſe Hoffnung iſt der Grund der ganzen Religion, und
Religionen, und ſie befiehlt uns die gegenwaͤrtige Luͤſte zu
bezaͤhmen, damit ſie uns nicht in ein kuͤnftiges Elend
ſtuͤrzen moͤgen. Man ſiehet aber auch leicht ein, daß man
dieſe Hoffnung durch Aufmerkſamkeit und oͤftere Betrach-
tungen derjenigen Begriffe unterhalten muͤſſe, worauf ſie
ſich gruͤndet. Wenn dieſes unterlaſſen wird, ſo verfallen
wir wieder unter die Herrſchaft der gegenwaͤrtigen Wol-
luſt, wodurch die Hoffnung des Kuͤnftigen traͤge gemacht
wird. Dies iſt das: ich ſehe das Beſſere vor mir, und
gebe ihm meinen Beifall; und dennoch folge ich dem
Schlechtern.
Der zweete Jnſtinkt, wovon wir bei den Thieren we-
nige, im Hunde aber einige Spuren antreffen, iſt die
Neugierde, oder die Begierde etwas Neues zu lernen,
und dieſe ſezzt auch den Menſchen auſſer ſich, daß er ſein
Vaterland vergieſt und auf unwegſamen Meeren und durch
tauſend Gefahren ſeine Neugierde zu ſtillen ſucht. Die-
ſes iſt ebenfalls ein ſtarker Beweis von der goͤttlichen Weis-
heit. Da die Thiere auf wenig Pflanzen und etliche an-
dre Thiere, um dieſe zu zerreiſſen, eingeſchraͤnkt ſind, und
da der Schauplazz der Natur nicht ohne Zuſchauer ſein
ſollte, ſo iſt der Menſch allein uͤbrig, die Wunder der
koͤrperlichen Welt zu beſchauen. Jhn hat alſo Gott zu
dieſer Verrichtung mit dieſem Jnſtinkte verſehen, den die
Europaͤer vor andren Voͤlkern in ſtaͤrkerem Grade beſiz-
zen. Man koͤnnte zwar den Urſprung deſſelben in dem
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Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 1116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1134>, abgerufen am 23.11.2024.
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