Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite

Das Sehen. XVI. Buch.
liegen der Körper, wenn wir wissen, daß diese Körper
groß sind, und uns stille zu liegen scheinen, und andere
von der Erfahrung hergenommene Sachen.

Die übrigen Hülfsmittel, z. E. das Bestreben, wo-
durch wir uns Mühe geben, unser Auge zu ändern, wenn
wir die Laage, oder Convexität der Crystallinse ändern
(q), oder die Sehachse anders stellen (r), darf ich, weil
sie sich auf eine Hypothese gründen, nicht gelten lassen (s).

Ob es endlich gleich wahr ist, daß alles je näher es
uns liegt, disseits der Distanz des deutlichen Sehens al-
les in der That verwirrter erscheint (t), so habe ich doch
niemals erfahren, daß die Seele daraus urtheilt, das
Object sei uns näher. Wir pflegen niemals in gemeinen
Leben gar zu nahe Objecte zu beschauen: Wie wir öfters
aus Noth nach gar zu entfernten Körpern sehen müssen,
und wir lernen aus dem Gebrauch, auf was vor Art sie
sich im Auge vorstellig machen.

§. 32.
Die Bewegung der Ruhe.

Wir urtheilen, daß sich ein Körper bewege, wenn
man ihn, den Augenblikk bald in diesem bald in einem an-
dern Punkte durch die Sehachse erblikken. Folglich kann
sich viel verführerisches hiermit einmischen. Alles scheint
zu ruhen, was in einer gegebenen Zeit einen sehr kleinen
Raum durchläuft, so daß der Zwischenraum des zweiten
Punkts, unter welchem wir es sehen, vom ersten, mit ei-
nem gar zu kleinem Winkel gemessen wird. So scheint
uns das Sper an einer Uhr stille zu stehen, so wie das
Blut in den Blutadern eines lebendigen Frosches, und
die Thierchen im Saamen. Wenn man ein Vergrösse-

rungs-
(q) [Spaltenumbruch] HARTLEY p. 202. S' GRA-
VEZANDE n. 3111. 3112. BAYLE
p. 481. PORTERFIELD II. pag.

386. 387.
(r) [Spaltenumbruch] BAYLE p. 480. S' GRAVE-
ZANDE n. 3114. la HIRE p. 536.
HARTSOEKER p.
85.
(s) p. 514. 515.
(t) BERKLEY p. 224. 241.

Das Sehen. XVI. Buch.
liegen der Koͤrper, wenn wir wiſſen, daß dieſe Koͤrper
groß ſind, und uns ſtille zu liegen ſcheinen, und andere
von der Erfahrung hergenommene Sachen.

Die uͤbrigen Huͤlfsmittel, z. E. das Beſtreben, wo-
durch wir uns Muͤhe geben, unſer Auge zu aͤndern, wenn
wir die Laage, oder Convexitaͤt der Cryſtallinſe aͤndern
(q), oder die Sehachſe anders ſtellen (r), darf ich, weil
ſie ſich auf eine Hypotheſe gruͤnden, nicht gelten laſſen (s).

Ob es endlich gleich wahr iſt, daß alles je naͤher es
uns liegt, diſſeits der Diſtanz des deutlichen Sehens al-
les in der That verwirrter erſcheint (t), ſo habe ich doch
niemals erfahren, daß die Seele daraus urtheilt, das
Object ſei uns naͤher. Wir pflegen niemals in gemeinen
Leben gar zu nahe Objecte zu beſchauen: Wie wir oͤfters
aus Noth nach gar zu entfernten Koͤrpern ſehen muͤſſen,
und wir lernen aus dem Gebrauch, auf was vor Art ſie
ſich im Auge vorſtellig machen.

§. 32.
Die Bewegung der Ruhe.

Wir urtheilen, daß ſich ein Koͤrper bewege, wenn
man ihn, den Augenblikk bald in dieſem bald in einem an-
dern Punkte durch die Sehachſe erblikken. Folglich kann
ſich viel verfuͤhreriſches hiermit einmiſchen. Alles ſcheint
zu ruhen, was in einer gegebenen Zeit einen ſehr kleinen
Raum durchlaͤuft, ſo daß der Zwiſchenraum des zweiten
Punkts, unter welchem wir es ſehen, vom erſten, mit ei-
nem gar zu kleinem Winkel gemeſſen wird. So ſcheint
uns das Sper an einer Uhr ſtille zu ſtehen, ſo wie das
Blut in den Blutadern eines lebendigen Froſches, und
die Thierchen im Saamen. Wenn man ein Vergroͤſſe-

rungs-
(q) [Spaltenumbruch] HARTLEY p. 202. S’ GRA-
VEZANDE n. 3111. 3112. BAYLE
p. 481. PORTERFIELD II. pag.

386. 387.
(r) [Spaltenumbruch] BAYLE p. 480. S’ GRAVE-
ZANDE n. 3114. la HIRE p. 536.
HARTSOEKER p.
85.
(s) p. 514. 515.
(t) BERKLEY p. 224. 241.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f1056" n="1038"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Das Sehen. <hi rendition="#aq">XVI.</hi> Buch.</hi></fw><lb/>
liegen der Ko&#x0364;rper, wenn wir wi&#x017F;&#x017F;en, daß die&#x017F;e Ko&#x0364;rper<lb/>
groß &#x017F;ind, und uns &#x017F;tille zu liegen &#x017F;cheinen, und andere<lb/>
von der Erfahrung hergenommene Sachen.</p><lb/>
            <p>Die u&#x0364;brigen Hu&#x0364;lfsmittel, z. E. das Be&#x017F;treben, wo-<lb/>
durch wir uns Mu&#x0364;he geben, un&#x017F;er Auge zu a&#x0364;ndern, wenn<lb/>
wir die Laage, oder Convexita&#x0364;t der Cry&#x017F;tallin&#x017F;e a&#x0364;ndern<lb/><note place="foot" n="(q)"><cb/><hi rendition="#aq">HARTLEY p. 202. S&#x2019; GRA-<lb/>
VEZANDE n. 3111. 3112. BAYLE<lb/>
p. 481. PORTERFIELD II. pag.</hi><lb/>
386. 387.</note>, oder die Sehach&#x017F;e anders &#x017F;tellen <note place="foot" n="(r)"><cb/><hi rendition="#aq">BAYLE p. 480. S&#x2019; GRAVE-<lb/>
ZANDE n. 3114. la HIRE p. 536.<lb/>
HARTSOEKER p.</hi> 85.</note>, darf ich, weil<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ich auf eine Hypothe&#x017F;e gru&#x0364;nden, nicht gelten la&#x017F;&#x017F;en <note place="foot" n="(s)"><hi rendition="#aq">p.</hi> 514. 515.</note>.</p><lb/>
            <p>Ob es endlich gleich wahr i&#x017F;t, daß alles je na&#x0364;her es<lb/>
uns liegt, di&#x017F;&#x017F;eits der Di&#x017F;tanz des deutlichen Sehens al-<lb/>
les in der That verwirrter er&#x017F;cheint <note place="foot" n="(t)"><hi rendition="#aq">BERKLEY p.</hi> 224. 241.</note>, &#x017F;o habe ich doch<lb/>
niemals erfahren, daß die Seele daraus urtheilt, das<lb/>
Object &#x017F;ei uns na&#x0364;her. Wir pflegen niemals in gemeinen<lb/>
Leben gar zu nahe Objecte zu be&#x017F;chauen: Wie wir o&#x0364;fters<lb/>
aus Noth nach gar zu entfernten Ko&#x0364;rpern &#x017F;ehen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
und wir lernen aus dem Gebrauch, auf was vor Art &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ich im Auge vor&#x017F;tellig machen.</p>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head>§. 32.<lb/>
Die Bewegung der Ruhe.</head><lb/>
            <p>Wir urtheilen, daß &#x017F;ich ein Ko&#x0364;rper bewege, wenn<lb/>
man ihn, den Augenblikk bald in die&#x017F;em bald in einem an-<lb/>
dern Punkte durch die Sehach&#x017F;e erblikken. Folglich kann<lb/>
&#x017F;ich viel verfu&#x0364;hreri&#x017F;ches hiermit einmi&#x017F;chen. Alles &#x017F;cheint<lb/>
zu ruhen, was in einer gegebenen Zeit einen &#x017F;ehr kleinen<lb/>
Raum durchla&#x0364;uft, &#x017F;o daß der Zwi&#x017F;chenraum des zweiten<lb/>
Punkts, unter welchem wir es &#x017F;ehen, vom er&#x017F;ten, mit ei-<lb/>
nem gar zu kleinem Winkel geme&#x017F;&#x017F;en wird. So &#x017F;cheint<lb/>
uns das Sper an einer Uhr &#x017F;tille zu &#x017F;tehen, &#x017F;o wie das<lb/>
Blut in den Blutadern eines lebendigen Fro&#x017F;ches, und<lb/>
die Thierchen im Saamen. Wenn man ein Vergro&#x0364;&#x017F;&#x017F;e-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">rungs-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1038/1056] Das Sehen. XVI. Buch. liegen der Koͤrper, wenn wir wiſſen, daß dieſe Koͤrper groß ſind, und uns ſtille zu liegen ſcheinen, und andere von der Erfahrung hergenommene Sachen. Die uͤbrigen Huͤlfsmittel, z. E. das Beſtreben, wo- durch wir uns Muͤhe geben, unſer Auge zu aͤndern, wenn wir die Laage, oder Convexitaͤt der Cryſtallinſe aͤndern (q), oder die Sehachſe anders ſtellen (r), darf ich, weil ſie ſich auf eine Hypotheſe gruͤnden, nicht gelten laſſen (s). Ob es endlich gleich wahr iſt, daß alles je naͤher es uns liegt, diſſeits der Diſtanz des deutlichen Sehens al- les in der That verwirrter erſcheint (t), ſo habe ich doch niemals erfahren, daß die Seele daraus urtheilt, das Object ſei uns naͤher. Wir pflegen niemals in gemeinen Leben gar zu nahe Objecte zu beſchauen: Wie wir oͤfters aus Noth nach gar zu entfernten Koͤrpern ſehen muͤſſen, und wir lernen aus dem Gebrauch, auf was vor Art ſie ſich im Auge vorſtellig machen. §. 32. Die Bewegung der Ruhe. Wir urtheilen, daß ſich ein Koͤrper bewege, wenn man ihn, den Augenblikk bald in dieſem bald in einem an- dern Punkte durch die Sehachſe erblikken. Folglich kann ſich viel verfuͤhreriſches hiermit einmiſchen. Alles ſcheint zu ruhen, was in einer gegebenen Zeit einen ſehr kleinen Raum durchlaͤuft, ſo daß der Zwiſchenraum des zweiten Punkts, unter welchem wir es ſehen, vom erſten, mit ei- nem gar zu kleinem Winkel gemeſſen wird. So ſcheint uns das Sper an einer Uhr ſtille zu ſtehen, ſo wie das Blut in den Blutadern eines lebendigen Froſches, und die Thierchen im Saamen. Wenn man ein Vergroͤſſe- rungs- (q) HARTLEY p. 202. S’ GRA- VEZANDE n. 3111. 3112. BAYLE p. 481. PORTERFIELD II. pag. 386. 387. (r) BAYLE p. 480. S’ GRAVE- ZANDE n. 3114. la HIRE p. 536. HARTSOEKER p. 85. (s) p. 514. 515. (t) BERKLEY p. 224. 241.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1056
Zitationshilfe: Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 5. Berlin, 1772, S. 1038. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende05_1772/1056>, abgerufen am 23.11.2024.