Der siebente Abschnitt. Die Erscheinungen an einem lebendigen Gehirne.
§. 1. Was die Empfindung sei?
Es hat das Gehirn mit den Nerven nicht nur einer- lei Natur, sondern auch einerlei Verrichtung. Um diese gehörig bestimmen zu können, so müssen wir uns vor- nämlich der Versuche bedienen, und nicht über das Zeug- niß der Sinne hinausschweifen.
Wir verstehen hier unter dem Wort empfinden, und zwar nach der gemeinen Bedeutung des Worts, eine iede Veränderung in unserer Seele, welche aus der Be- rührung des menschlichen Körpers mit der Seele ver- bunden, entsteht. Wenn iemand dieses Wort anders gebraucht, und die Veränderung in der Seele von der Empfindung ausschliessen will, so warnen wir diesen, die Veränderungen des todten Körpers mit der Empfin- dung des lebenden Körpers nicht zu vermischen, indem so gar die Theile des todten Körpers, sonderlich von der Berührung scharfer Körperchen, in Bewegung gebracht werden, und doch wird niemand diese Veränderung für Empfindung halten.
Es empfindet daher ein Nerve, wenn nämlich, so oft er von irgend einem Körper berührt wird, in der Seele eine Veränderung entsteht, vermittelst deren sie sich dieses Berührens bewußt ist. Jch habe mit Fleiß einen ieden Körper genennt, indem so wol die Luft unter der Ge- stalt des Windes, als die Wärme und das Licht selbsten, es
mag
D d 3
Der ſiebente Abſchnitt. Die Erſcheinungen an einem lebendigen Gehirne.
§. 1. Was die Empfindung ſei?
Es hat das Gehirn mit den Nerven nicht nur einer- lei Natur, ſondern auch einerlei Verrichtung. Um dieſe gehoͤrig beſtimmen zu koͤnnen, ſo muͤſſen wir uns vor- naͤmlich der Verſuche bedienen, und nicht uͤber das Zeug- niß der Sinne hinausſchweifen.
Wir verſtehen hier unter dem Wort empfinden, und zwar nach der gemeinen Bedeutung des Worts, eine iede Veraͤnderung in unſerer Seele, welche aus der Be- ruͤhrung des menſchlichen Koͤrpers mit der Seele ver- bunden, entſteht. Wenn iemand dieſes Wort anders gebraucht, und die Veraͤnderung in der Seele von der Empfindung ausſchlieſſen will, ſo warnen wir dieſen, die Veraͤnderungen des todten Koͤrpers mit der Empfin- dung des lebenden Koͤrpers nicht zu vermiſchen, indem ſo gar die Theile des todten Koͤrpers, ſonderlich von der Beruͤhrung ſcharfer Koͤrperchen, in Bewegung gebracht werden, und doch wird niemand dieſe Veraͤnderung fuͤr Empfindung halten.
Es empfindet daher ein Nerve, wenn naͤmlich, ſo oft er von irgend einem Koͤrper beruͤhrt wird, in der Seele eine Veraͤnderung entſteht, vermittelſt deren ſie ſich dieſes Beruͤhrens bewußt iſt. Jch habe mit Fleiß einen ieden Koͤrper genennt, indem ſo wol die Luft unter der Ge- ſtalt des Windes, als die Waͤrme und das Licht ſelbſten, es
mag
D d 3
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0457"n="421"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="2"><head>Der ſiebente Abſchnitt.<lb/>
Die Erſcheinungen an einem lebendigen<lb/>
Gehirne.</head><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><divn="3"><head>§. 1.<lb/>
Was die Empfindung ſei?</head><lb/><p>Es hat das Gehirn mit den Nerven nicht nur einer-<lb/>
lei Natur, ſondern auch einerlei Verrichtung. Um dieſe<lb/>
gehoͤrig beſtimmen zu koͤnnen, ſo muͤſſen wir uns vor-<lb/>
naͤmlich der Verſuche bedienen, und nicht uͤber das Zeug-<lb/>
niß der Sinne hinausſchweifen.</p><lb/><p>Wir verſtehen hier unter dem Wort <hirendition="#fr">empfinden,</hi><lb/>
und zwar nach der gemeinen Bedeutung des Worts, eine<lb/>
iede Veraͤnderung in unſerer Seele, welche aus der Be-<lb/>
ruͤhrung des menſchlichen Koͤrpers mit der Seele ver-<lb/>
bunden, entſteht. Wenn iemand dieſes Wort anders<lb/>
gebraucht, und die Veraͤnderung in der Seele von der<lb/>
Empfindung ausſchlieſſen will, ſo warnen wir dieſen,<lb/>
die Veraͤnderungen des todten Koͤrpers mit der Empfin-<lb/>
dung des lebenden Koͤrpers nicht zu vermiſchen, indem<lb/>ſo gar die Theile des todten Koͤrpers, ſonderlich von der<lb/>
Beruͤhrung ſcharfer Koͤrperchen, in Bewegung gebracht<lb/>
werden, und doch wird niemand dieſe Veraͤnderung fuͤr<lb/>
Empfindung halten.</p><lb/><p>Es empfindet daher ein Nerve, wenn naͤmlich, ſo<lb/>
oft er von irgend einem Koͤrper beruͤhrt wird, in der<lb/>
Seele eine Veraͤnderung entſteht, vermittelſt deren ſie<lb/>ſich dieſes Beruͤhrens bewußt iſt. Jch habe mit Fleiß einen<lb/>
ieden Koͤrper genennt, indem ſo wol die Luft unter der Ge-<lb/>ſtalt des Windes, als die Waͤrme und das Licht ſelbſten, es<lb/><fwplace="bottom"type="sig">D d 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">mag</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[421/0457]
Der ſiebente Abſchnitt.
Die Erſcheinungen an einem lebendigen
Gehirne.
§. 1.
Was die Empfindung ſei?
Es hat das Gehirn mit den Nerven nicht nur einer-
lei Natur, ſondern auch einerlei Verrichtung. Um dieſe
gehoͤrig beſtimmen zu koͤnnen, ſo muͤſſen wir uns vor-
naͤmlich der Verſuche bedienen, und nicht uͤber das Zeug-
niß der Sinne hinausſchweifen.
Wir verſtehen hier unter dem Wort empfinden,
und zwar nach der gemeinen Bedeutung des Worts, eine
iede Veraͤnderung in unſerer Seele, welche aus der Be-
ruͤhrung des menſchlichen Koͤrpers mit der Seele ver-
bunden, entſteht. Wenn iemand dieſes Wort anders
gebraucht, und die Veraͤnderung in der Seele von der
Empfindung ausſchlieſſen will, ſo warnen wir dieſen,
die Veraͤnderungen des todten Koͤrpers mit der Empfin-
dung des lebenden Koͤrpers nicht zu vermiſchen, indem
ſo gar die Theile des todten Koͤrpers, ſonderlich von der
Beruͤhrung ſcharfer Koͤrperchen, in Bewegung gebracht
werden, und doch wird niemand dieſe Veraͤnderung fuͤr
Empfindung halten.
Es empfindet daher ein Nerve, wenn naͤmlich, ſo
oft er von irgend einem Koͤrper beruͤhrt wird, in der
Seele eine Veraͤnderung entſteht, vermittelſt deren ſie
ſich dieſes Beruͤhrens bewußt iſt. Jch habe mit Fleiß einen
ieden Koͤrper genennt, indem ſo wol die Luft unter der Ge-
ſtalt des Windes, als die Waͤrme und das Licht ſelbſten, es
mag
D d 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haller, Albrecht von: Anfangsgründe der Phisiologie des menschlichen Körpers. Bd. 4. Berlin, 1768, S. 421. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haller_anfangsgruende04_1768/457>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.