Keimblätter-Lehre. Nachdem durch Oken die Epigenesis- Theorie von Wolff bestätigt und durch Meckel (1812) dessen wichtige Schrift über die Entwickelung des Darmkanals aus dem Lateinischen in's Deutsche übersetzt war, warfen sich in Deutsch- land mehrere junge Naturforscher mit großem Eifer auf die ge- nauere Untersuchung der Keimesgeschichte. Der bedeutendste und erfolgreichste derselben war Carl Ernst Baer; sein be- rühmtes Hauptwerk erschien 1828 unter dem Titel: "Entwickelungs- geschichte der Thiere, Beobachtung und Reflexion". Nicht allein sind darin die Vorgänge der Keimbildung ausgezeichnet klar und vollständig beschrieben, sondern auch zahlreiche geistvolle Speku- lationen daran geknüpft. Vorzugsweise ist zwar die Embryo- bildung des Menschen und der Wirbelthiere genau dar- gestellt, aber daneben auch die wesentlich verschiedene Outogenie der niederen, wirbellosen Thiere berücksichtigt. Die zwei blatt- förmigen Schichten, welche in der runden Keimscheibe der höheren Wirbelthiere zuerst auftreten, zerfallen nach Baer zunächst in je zwei Blätter, und diese vier Keimblätter verwandeln sich in vier Röhren, die Fundamental-Organe: Hautschicht, Fleisch- schicht, Gefäßschicht und Schleimschicht. Durch sehr verwickelte Processe der Epigenesis entstehen daraus die späteren Organe, und zwar bei dem Menschen und bei allen Wirbelthieren in wesentlich gleicher Weise. Ganz anders verhalten sich darin die drei Hauptgruppen der wirbellosen Thiere, unter sich wieder sehr verschieden. Unter den vielen einzelnen Entdeckungen von Baer war eine der wichtigsten das menschliche Ei. Bis Dahin hatte man beim Menschen, wie bei allen anderen Säugethieren, für Eier kleine Bläschen gehalten, die sich zahlreich im Eierstock finden. Erst Baer zeigte (1827), daß die wahren Eier in diesen Bläschen, den "Graaf'schen Follikeln" eingeschlossen und viel kleiner sind, Kügelchen von nur 0,2 mm Durchmesser, unter günstigen Verhältnissen eben als Pünktchen mit bloßem Auge zu
5*
IV. Theorie der Keimblätter.
Keimblätter-Lehre. Nachdem durch Oken die Epigeneſis- Theorie von Wolff beſtätigt und durch Meckel (1812) deſſen wichtige Schrift über die Entwickelung des Darmkanals aus dem Lateiniſchen in's Deutſche überſetzt war, warfen ſich in Deutſch- land mehrere junge Naturforſcher mit großem Eifer auf die ge- nauere Unterſuchung der Keimesgeſchichte. Der bedeutendſte und erfolgreichſte derſelben war Carl Ernſt Baer; ſein be- rühmtes Hauptwerk erſchien 1828 unter dem Titel: „Entwickelungs- geſchichte der Thiere, Beobachtung und Reflexion“. Nicht allein ſind darin die Vorgänge der Keimbildung ausgezeichnet klar und vollſtändig beſchrieben, ſondern auch zahlreiche geiſtvolle Speku- lationen daran geknüpft. Vorzugsweiſe iſt zwar die Embryo- bildung des Menſchen und der Wirbelthiere genau dar- geſtellt, aber daneben auch die weſentlich verſchiedene Outogenie der niederen, wirbelloſen Thiere berückſichtigt. Die zwei blatt- förmigen Schichten, welche in der runden Keimſcheibe der höheren Wirbelthiere zuerſt auftreten, zerfallen nach Baer zunächſt in je zwei Blätter, und dieſe vier Keimblätter verwandeln ſich in vier Röhren, die Fundamental-Organe: Hautſchicht, Fleiſch- ſchicht, Gefäßſchicht und Schleimſchicht. Durch ſehr verwickelte Proceſſe der Epigeneſis entſtehen daraus die ſpäteren Organe, und zwar bei dem Menſchen und bei allen Wirbelthieren in weſentlich gleicher Weiſe. Ganz anders verhalten ſich darin die drei Hauptgruppen der wirbelloſen Thiere, unter ſich wieder ſehr verſchieden. Unter den vielen einzelnen Entdeckungen von Baer war eine der wichtigſten das menſchliche Ei. Bis Dahin hatte man beim Menſchen, wie bei allen anderen Säugethieren, für Eier kleine Bläschen gehalten, die ſich zahlreich im Eierſtock finden. Erſt Baer zeigte (1827), daß die wahren Eier in dieſen Bläschen, den „Graaf'ſchen Follikeln“ eingeſchloſſen und viel kleiner ſind, Kügelchen von nur 0,2 mm Durchmeſſer, unter günſtigen Verhältniſſen eben als Pünktchen mit bloßem Auge zu
5*
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0083"n="67"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">IV.</hi> Theorie der Keimblätter.</fw><lb/><p><hirendition="#b">Keimblätter-Lehre.</hi> Nachdem durch <hirendition="#g">Oken</hi> die Epigeneſis-<lb/>
Theorie von <hirendition="#g">Wolff</hi> beſtätigt und durch <hirendition="#g">Meckel</hi> (1812) deſſen<lb/>
wichtige Schrift über die Entwickelung des Darmkanals aus dem<lb/>
Lateiniſchen in's Deutſche überſetzt war, warfen ſich in Deutſch-<lb/>
land mehrere junge Naturforſcher mit großem Eifer auf die ge-<lb/>
nauere Unterſuchung der Keimesgeſchichte. Der bedeutendſte und<lb/>
erfolgreichſte derſelben war <hirendition="#g">Carl Ernſt Baer</hi>; ſein be-<lb/>
rühmtes Hauptwerk erſchien 1828 unter dem Titel: „Entwickelungs-<lb/>
geſchichte der Thiere, Beobachtung und Reflexion“. Nicht allein<lb/>ſind darin die Vorgänge der Keimbildung ausgezeichnet klar und<lb/>
vollſtändig beſchrieben, ſondern auch zahlreiche geiſtvolle Speku-<lb/>
lationen daran geknüpft. Vorzugsweiſe iſt zwar die Embryo-<lb/>
bildung des <hirendition="#g">Menſchen</hi> und der <hirendition="#g">Wirbelthiere</hi> genau dar-<lb/>
geſtellt, aber daneben auch die weſentlich verſchiedene Outogenie<lb/>
der niederen, wirbelloſen Thiere berückſichtigt. Die zwei blatt-<lb/>
förmigen Schichten, welche in der runden Keimſcheibe der höheren<lb/>
Wirbelthiere zuerſt auftreten, zerfallen nach <hirendition="#g">Baer</hi> zunächſt in<lb/>
je zwei <hirendition="#g">Blätter</hi>, und dieſe vier Keimblätter verwandeln ſich<lb/>
in vier <hirendition="#g">Röhren</hi>, die Fundamental-Organe: Hautſchicht, Fleiſch-<lb/>ſchicht, Gefäßſchicht und Schleimſchicht. Durch ſehr verwickelte<lb/>
Proceſſe der Epigeneſis entſtehen daraus die ſpäteren Organe,<lb/>
und zwar bei dem Menſchen und bei allen Wirbelthieren in<lb/>
weſentlich gleicher Weiſe. Ganz anders verhalten ſich darin die<lb/>
drei Hauptgruppen der wirbelloſen Thiere, unter ſich wieder ſehr<lb/>
verſchieden. Unter den vielen einzelnen Entdeckungen von <hirendition="#g">Baer</hi><lb/>
war eine der wichtigſten das menſchliche Ei. Bis Dahin hatte<lb/>
man beim Menſchen, wie bei allen anderen Säugethieren, für<lb/>
Eier kleine Bläschen gehalten, die ſich zahlreich im Eierſtock<lb/>
finden. Erſt <hirendition="#g">Baer</hi> zeigte (1827), daß die wahren Eier in<lb/>
dieſen Bläschen, den „Graaf'ſchen Follikeln“ eingeſchloſſen und<lb/>
viel kleiner ſind, Kügelchen von nur 0,2 <hirendition="#aq">mm</hi> Durchmeſſer, unter<lb/>
günſtigen Verhältniſſen eben als Pünktchen mit bloßem Auge zu<lb/><fwplace="bottom"type="sig">5*</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[67/0083]
IV. Theorie der Keimblätter.
Keimblätter-Lehre. Nachdem durch Oken die Epigeneſis-
Theorie von Wolff beſtätigt und durch Meckel (1812) deſſen
wichtige Schrift über die Entwickelung des Darmkanals aus dem
Lateiniſchen in's Deutſche überſetzt war, warfen ſich in Deutſch-
land mehrere junge Naturforſcher mit großem Eifer auf die ge-
nauere Unterſuchung der Keimesgeſchichte. Der bedeutendſte und
erfolgreichſte derſelben war Carl Ernſt Baer; ſein be-
rühmtes Hauptwerk erſchien 1828 unter dem Titel: „Entwickelungs-
geſchichte der Thiere, Beobachtung und Reflexion“. Nicht allein
ſind darin die Vorgänge der Keimbildung ausgezeichnet klar und
vollſtändig beſchrieben, ſondern auch zahlreiche geiſtvolle Speku-
lationen daran geknüpft. Vorzugsweiſe iſt zwar die Embryo-
bildung des Menſchen und der Wirbelthiere genau dar-
geſtellt, aber daneben auch die weſentlich verſchiedene Outogenie
der niederen, wirbelloſen Thiere berückſichtigt. Die zwei blatt-
förmigen Schichten, welche in der runden Keimſcheibe der höheren
Wirbelthiere zuerſt auftreten, zerfallen nach Baer zunächſt in
je zwei Blätter, und dieſe vier Keimblätter verwandeln ſich
in vier Röhren, die Fundamental-Organe: Hautſchicht, Fleiſch-
ſchicht, Gefäßſchicht und Schleimſchicht. Durch ſehr verwickelte
Proceſſe der Epigeneſis entſtehen daraus die ſpäteren Organe,
und zwar bei dem Menſchen und bei allen Wirbelthieren in
weſentlich gleicher Weiſe. Ganz anders verhalten ſich darin die
drei Hauptgruppen der wirbelloſen Thiere, unter ſich wieder ſehr
verſchieden. Unter den vielen einzelnen Entdeckungen von Baer
war eine der wichtigſten das menſchliche Ei. Bis Dahin hatte
man beim Menſchen, wie bei allen anderen Säugethieren, für
Eier kleine Bläschen gehalten, die ſich zahlreich im Eierſtock
finden. Erſt Baer zeigte (1827), daß die wahren Eier in
dieſen Bläschen, den „Graaf'ſchen Follikeln“ eingeſchloſſen und
viel kleiner ſind, Kügelchen von nur 0,2 mm Durchmeſſer, unter
günſtigen Verhältniſſen eben als Pünktchen mit bloßem Auge zu
5*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/83>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.