Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.III. Vergleichende Physiologie. Borelli (1660) die Bewegungen des Thierkörpers auf reinphysikalische Gesetze zurück, und gleichzeitig versuchte Sylvius die Vorgänge bei der Verdauung und Athmung als rein chemische Processe zu erklären; ersterer begründete in der Medicin eine iatro- mechanische, letzterer eine iatrochemische Schule. Allein diese vernünftigen Ansätze zu einer naturgemäßen, mechanischen Erklärung der Lebens-Erscheinungen vermochten keine allgemeine Anwendung und Geltung zu erringen; und im Laufe des 18. Jahrhunderts traten sie ganz zurück, je mehr sich der teleo- logische Vitalismus entwickelte. Eine endgültige Widerlegung des letzteren und Rückkehr zur ersteren wurde erst vorbereitet, als im vierten Decennium unseres Jahrhunderts die neue ver- gleichende Physiologie sich zu fruchtbarer Geltung erhob. Vergleichende Physiologie. Wie unsere Kenntnisse vom III. Vergleichende Phyſiologie. Borelli (1660) die Bewegungen des Thierkörpers auf reinphyſikaliſche Geſetze zurück, und gleichzeitig verſuchte Sylvius die Vorgänge bei der Verdauung und Athmung als rein chemiſche Proceſſe zu erklären; erſterer begründete in der Medicin eine iatro- mechaniſche, letzterer eine iatrochemiſche Schule. Allein dieſe vernünftigen Anſätze zu einer naturgemäßen, mechaniſchen Erklärung der Lebens-Erſcheinungen vermochten keine allgemeine Anwendung und Geltung zu erringen; und im Laufe des 18. Jahrhunderts traten ſie ganz zurück, je mehr ſich der teleo- logiſche Vitalismus entwickelte. Eine endgültige Widerlegung des letzteren und Rückkehr zur erſteren wurde erſt vorbereitet, als im vierten Decennium unſeres Jahrhunderts die neue ver- gleichende Phyſiologie ſich zu fruchtbarer Geltung erhob. Vergleichende Phyſiologie. Wie unſere Kenntniſſe vom <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0069" n="53"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">III.</hi> Vergleichende Phyſiologie.</fw><lb/><hi rendition="#g">Borelli</hi> (1660) die Bewegungen des Thierkörpers auf rein<lb/> phyſikaliſche Geſetze zurück, und gleichzeitig verſuchte <hi rendition="#g">Sylvius</hi><lb/> die Vorgänge bei der Verdauung und Athmung als rein chemiſche<lb/> Proceſſe zu erklären; erſterer begründete in der Medicin eine <hi rendition="#g">iatro-<lb/> mechaniſche,</hi> letzterer eine <hi rendition="#g">iatrochemiſche</hi> Schule. Allein<lb/> dieſe vernünftigen Anſätze zu einer naturgemäßen, mechaniſchen<lb/> Erklärung der Lebens-Erſcheinungen vermochten keine allgemeine<lb/> Anwendung und Geltung zu erringen; und im Laufe des<lb/> 18. Jahrhunderts traten ſie ganz zurück, je mehr ſich der teleo-<lb/> logiſche Vitalismus entwickelte. Eine endgültige Widerlegung<lb/> des letzteren und Rückkehr zur erſteren wurde erſt vorbereitet,<lb/> als im vierten Decennium unſeres Jahrhunderts die neue <hi rendition="#g">ver-<lb/> gleichende</hi> Phyſiologie ſich zu fruchtbarer Geltung erhob.</p><lb/> <p><hi rendition="#b">Vergleichende Phyſiologie.</hi> Wie unſere Kenntniſſe vom<lb/> Körperbau des Menſchen, ſo wurden auch diejenigen von ſeiner<lb/> Lebensthätigkeit urſprünglich größtentheils nicht durch direkte<lb/> Beobachtung am menſchlichen Organismus ſelbſt gewonnen, ſon-<lb/> dern an den nächſtverwandten höheren Wirbelthieren, vor Allem<lb/> den <hi rendition="#g">Säugethieren</hi>. Inſofern waren ſchon die älteſten Anfänge<lb/> der menſchlichen Anatomie und Phyſiologie „<hi rendition="#g">vergleichend</hi>“.<lb/> Aber die eigentliche „vergleichende Phyſiologie“, welche das ganze<lb/> Gebiet der Lebens-Erſcheinungen von den niederſten Thieren bis<lb/> zum Menſchen hinauf im Zuſammenhang erfaßt, iſt erſt eine<lb/> Errungenſchaft des 19. Jahrhunderts; ihr großer Schöpfer war<lb/><hi rendition="#g">Johannes Müller</hi> in Berlin (geb. 1801 in Coblenz als<lb/> Sohn eines Schuhmachers). Von 1833-1858, volle 25 Jahre<lb/> hindurch, entfaltete dieſer vielſeitigſte und umfaſſendſte Biologe<lb/> unſerer Zeit an der Berliner Univerſität als Lehrer und Forſcher<lb/> eine Thätigkeit, die nur mit der vereinigten Wirkſamkeit von<lb/><hi rendition="#g">Haller</hi> und <hi rendition="#g">Cuvier</hi> zu vergleichen iſt. Faſt alle großen<lb/> Biologen, welche in den letzten 60 Jahren in Deutſchland lehrten<lb/> und wirkten, waren direkt oder indirekt Schüler von <hi rendition="#g">Johannes</hi><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [53/0069]
III. Vergleichende Phyſiologie.
Borelli (1660) die Bewegungen des Thierkörpers auf rein
phyſikaliſche Geſetze zurück, und gleichzeitig verſuchte Sylvius
die Vorgänge bei der Verdauung und Athmung als rein chemiſche
Proceſſe zu erklären; erſterer begründete in der Medicin eine iatro-
mechaniſche, letzterer eine iatrochemiſche Schule. Allein
dieſe vernünftigen Anſätze zu einer naturgemäßen, mechaniſchen
Erklärung der Lebens-Erſcheinungen vermochten keine allgemeine
Anwendung und Geltung zu erringen; und im Laufe des
18. Jahrhunderts traten ſie ganz zurück, je mehr ſich der teleo-
logiſche Vitalismus entwickelte. Eine endgültige Widerlegung
des letzteren und Rückkehr zur erſteren wurde erſt vorbereitet,
als im vierten Decennium unſeres Jahrhunderts die neue ver-
gleichende Phyſiologie ſich zu fruchtbarer Geltung erhob.
Vergleichende Phyſiologie. Wie unſere Kenntniſſe vom
Körperbau des Menſchen, ſo wurden auch diejenigen von ſeiner
Lebensthätigkeit urſprünglich größtentheils nicht durch direkte
Beobachtung am menſchlichen Organismus ſelbſt gewonnen, ſon-
dern an den nächſtverwandten höheren Wirbelthieren, vor Allem
den Säugethieren. Inſofern waren ſchon die älteſten Anfänge
der menſchlichen Anatomie und Phyſiologie „vergleichend“.
Aber die eigentliche „vergleichende Phyſiologie“, welche das ganze
Gebiet der Lebens-Erſcheinungen von den niederſten Thieren bis
zum Menſchen hinauf im Zuſammenhang erfaßt, iſt erſt eine
Errungenſchaft des 19. Jahrhunderts; ihr großer Schöpfer war
Johannes Müller in Berlin (geb. 1801 in Coblenz als
Sohn eines Schuhmachers). Von 1833-1858, volle 25 Jahre
hindurch, entfaltete dieſer vielſeitigſte und umfaſſendſte Biologe
unſerer Zeit an der Berliner Univerſität als Lehrer und Forſcher
eine Thätigkeit, die nur mit der vereinigten Wirkſamkeit von
Haller und Cuvier zu vergleichen iſt. Faſt alle großen
Biologen, welche in den letzten 60 Jahren in Deutſchland lehrten
und wirkten, waren direkt oder indirekt Schüler von Johannes
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