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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Anmerkungen und Erläuterungen.
"kritischen" Weltweisheit. Seine dualistische, mit den Jahren immer zu-
nehmende Richtung zur transcendentalen Metaphysik war bei
Kant schon durch die mangelhafte und einseitige Vorbildung auf der Schule
und der Universität bedingt. Seine dort erlangte akademische Bildung war
überwiegend philologisch, theologisch und mathematisch; von den
Naturwissenschaften lernte er nur Astronomie und Physik gründlich kennen,
zum Theil auch Chemie und Mineralogie. Dagegen blieb ihm das weite
Gebiet der Biologie, selbst in dem bescheidenen Umfange der damaligen
Zeit, größtentheils unbekannt. Von den organischen Naturwissen-
schaften hat er weder Zoologie noch Botanik, weder Anatomie noch Physio-
logie studirt; daher blieb auch seine Anthropologie, mit der er sich lange
Zeit beschäftigte, höchst unvollkommen. Hätte Kant statt Philologie und
Theologie mehrere Jahre Medizin studirt, hätte er sich in den Vor-
lesungen über Anatomie und Physiologie eine gründliche Kenntniß des
menschlichen Organismus, in dem Besuche der Kliniken eine lebendige
Anschauung von dessen pathologischen Veränderungen angeeignet, so würde
nicht nur die Anthropologie, sondern die gesammte Weltanschauung
des "kritischen" Philosophen eine ganz andere Form gewonnen haben.
Kant würde sich dann nicht so leichten Herzens über die wichtigsten, schon
damals bekannten biologischen Thatsachen hinweggesetzt haben, wie es in
seinen späteren Schriften (seit 1769) geschah.
Nach Vollendung seiner Universitäts-Studien mußte Kant sich neun
Jahre hindurch sein Brod als Hauslehrer verdienen, vom 22.-31. Lebens-
jahre, also gerade in jener wichtigsten Periode des Jünglings-Lebens, in
welcher nach aufgenommener akademischer Bildung die selbstständige Ent-
wickelung des persönlichen und wissenschaftlichen Charakters für das ganze
folgende Leben sich entscheidet. Hätte Kant, der den größten Theil seines
Lebens in Königsberg fest saß und niemals die Grenzen der Provinz
Preußen überschritt, damals größere Reisen ausgeführt, hätte er seinem
lebhaften geographischen und anthropologischen Interesse durch reale An-
schauungen
lebendige Nahrung zugeführt, so würde diese Erweiterung
seines Gesichtskreises auf die Gestaltung seiner idealen Weltanschauung
sicher in höchst wohlthätiger Weise realistisch eingewirkt haben. Auch der
Umstand, daß Kant niemals verheirathet war, kann bei ihm wie bei
anderen philosophirenden Junggesellen als Entschuldigung für mangelhafte
und einseitige Bildung angesehen werden. Denn der weibliche und der
männliche Mensch sind zwei wesentlich verschiedene Organismen, die erst in
ihrer gegenseitigen Ergänzung das volle Bild des normalen Gattungs-
Begriffs "Mensch" ausgestalten.
12) Kritik der Evangelien. (S. 361.) S. E. Verus, Ver-
gleichende Uebersicht (Vollständige Synopsis) der vier Evan-
gelien
in unverkürztem Wortlaut. Leipzig 1897. Schlußwort: "Jede
Schrift muß aus dem Geist ihrer Zeit verstanden und beurtheilt werden.
Die "Evangelien"-Dichtungen entstammen einer ganz unwissen-
Anmerkungen und Erläuterungen.
„kritiſchen“ Weltweisheit. Seine dualiſtiſche, mit den Jahren immer zu-
nehmende Richtung zur tranſcendentalen Metaphyſik war bei
Kant ſchon durch die mangelhafte und einſeitige Vorbildung auf der Schule
und der Univerſität bedingt. Seine dort erlangte akademiſche Bildung war
überwiegend philologiſch, theologiſch und mathematiſch; von den
Naturwiſſenſchaften lernte er nur Aſtronomie und Phyſik gründlich kennen,
zum Theil auch Chemie und Mineralogie. Dagegen blieb ihm das weite
Gebiet der Biologie, ſelbſt in dem beſcheidenen Umfange der damaligen
Zeit, größtentheils unbekannt. Von den organiſchen Naturwiſſen-
ſchaften hat er weder Zoologie noch Botanik, weder Anatomie noch Phyſio-
logie ſtudirt; daher blieb auch ſeine Anthropologie, mit der er ſich lange
Zeit beſchäftigte, höchſt unvollkommen. Hätte Kant ſtatt Philologie und
Theologie mehrere Jahre Medizin ſtudirt, hätte er ſich in den Vor-
leſungen über Anatomie und Phyſiologie eine gründliche Kenntniß des
menſchlichen Organismus, in dem Beſuche der Kliniken eine lebendige
Anſchauung von deſſen pathologiſchen Veränderungen angeeignet, ſo würde
nicht nur die Anthropologie, ſondern die geſammte Weltanſchauung
des „kritiſchen“ Philoſophen eine ganz andere Form gewonnen haben.
Kant würde ſich dann nicht ſo leichten Herzens über die wichtigſten, ſchon
damals bekannten biologiſchen Thatſachen hinweggeſetzt haben, wie es in
ſeinen ſpäteren Schriften (ſeit 1769) geſchah.
Nach Vollendung ſeiner Univerſitäts-Studien mußte Kant ſich neun
Jahre hindurch ſein Brod als Hauslehrer verdienen, vom 22.-31. Lebens-
jahre, alſo gerade in jener wichtigſten Periode des Jünglings-Lebens, in
welcher nach aufgenommener akademiſcher Bildung die ſelbſtſtändige Ent-
wickelung des perſönlichen und wiſſenſchaftlichen Charakters für das ganze
folgende Leben ſich entſcheidet. Hätte Kant, der den größten Theil ſeines
Lebens in Königsberg feſt ſaß und niemals die Grenzen der Provinz
Preußen überſchritt, damals größere Reiſen ausgeführt, hätte er ſeinem
lebhaften geographiſchen und anthropologiſchen Intereſſe durch reale An-
ſchauungen
lebendige Nahrung zugeführt, ſo würde dieſe Erweiterung
ſeines Geſichtskreiſes auf die Geſtaltung ſeiner idealen Weltanſchauung
ſicher in höchſt wohlthätiger Weiſe realiſtiſch eingewirkt haben. Auch der
Umſtand, daß Kant niemals verheirathet war, kann bei ihm wie bei
anderen philoſophirenden Junggeſellen als Entſchuldigung für mangelhafte
und einſeitige Bildung angeſehen werden. Denn der weibliche und der
männliche Menſch ſind zwei weſentlich verſchiedene Organismen, die erſt in
ihrer gegenſeitigen Ergänzung das volle Bild des normalen Gattungs-
Begriffs „Menſch“ ausgeſtalten.
12) Kritik der Evangelien. (S. 361.) S. E. Verus, Ver-
gleichende Ueberſicht (Vollſtändige Synopſis) der vier Evan-
gelien
in unverkürztem Wortlaut. Leipzig 1897. Schlußwort: „Jede
Schrift muß aus dem Geiſt ihrer Zeit verſtanden und beurtheilt werden.
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[455/0471] Anmerkungen und Erläuterungen. ¹¹⁾ „kritiſchen“ Weltweisheit. Seine dualiſtiſche, mit den Jahren immer zu- nehmende Richtung zur tranſcendentalen Metaphyſik war bei Kant ſchon durch die mangelhafte und einſeitige Vorbildung auf der Schule und der Univerſität bedingt. Seine dort erlangte akademiſche Bildung war überwiegend philologiſch, theologiſch und mathematiſch; von den Naturwiſſenſchaften lernte er nur Aſtronomie und Phyſik gründlich kennen, zum Theil auch Chemie und Mineralogie. Dagegen blieb ihm das weite Gebiet der Biologie, ſelbſt in dem beſcheidenen Umfange der damaligen Zeit, größtentheils unbekannt. Von den organiſchen Naturwiſſen- ſchaften hat er weder Zoologie noch Botanik, weder Anatomie noch Phyſio- logie ſtudirt; daher blieb auch ſeine Anthropologie, mit der er ſich lange Zeit beſchäftigte, höchſt unvollkommen. Hätte Kant ſtatt Philologie und Theologie mehrere Jahre Medizin ſtudirt, hätte er ſich in den Vor- leſungen über Anatomie und Phyſiologie eine gründliche Kenntniß des menſchlichen Organismus, in dem Beſuche der Kliniken eine lebendige Anſchauung von deſſen pathologiſchen Veränderungen angeeignet, ſo würde nicht nur die Anthropologie, ſondern die geſammte Weltanſchauung des „kritiſchen“ Philoſophen eine ganz andere Form gewonnen haben. Kant würde ſich dann nicht ſo leichten Herzens über die wichtigſten, ſchon damals bekannten biologiſchen Thatſachen hinweggeſetzt haben, wie es in ſeinen ſpäteren Schriften (ſeit 1769) geſchah. Nach Vollendung ſeiner Univerſitäts-Studien mußte Kant ſich neun Jahre hindurch ſein Brod als Hauslehrer verdienen, vom 22.-31. Lebens- jahre, alſo gerade in jener wichtigſten Periode des Jünglings-Lebens, in welcher nach aufgenommener akademiſcher Bildung die ſelbſtſtändige Ent- wickelung des perſönlichen und wiſſenſchaftlichen Charakters für das ganze folgende Leben ſich entſcheidet. Hätte Kant, der den größten Theil ſeines Lebens in Königsberg feſt ſaß und niemals die Grenzen der Provinz Preußen überſchritt, damals größere Reiſen ausgeführt, hätte er ſeinem lebhaften geographiſchen und anthropologiſchen Intereſſe durch reale An- ſchauungen lebendige Nahrung zugeführt, ſo würde dieſe Erweiterung ſeines Geſichtskreiſes auf die Geſtaltung ſeiner idealen Weltanſchauung ſicher in höchſt wohlthätiger Weiſe realiſtiſch eingewirkt haben. Auch der Umſtand, daß Kant niemals verheirathet war, kann bei ihm wie bei anderen philoſophirenden Junggeſellen als Entſchuldigung für mangelhafte und einſeitige Bildung angeſehen werden. Denn der weibliche und der männliche Menſch ſind zwei weſentlich verſchiedene Organismen, die erſt in ihrer gegenſeitigen Ergänzung das volle Bild des normalen Gattungs- Begriffs „Menſch“ ausgeſtalten. ¹²⁾ Kritik der Evangelien. (S. 361.) S. E. Verus, Ver- gleichende Ueberſicht (Vollſtändige Synopſis) der vier Evan- gelien in unverkürztem Wortlaut. Leipzig 1897. Schlußwort: „Jede Schrift muß aus dem Geiſt ihrer Zeit verſtanden und beurtheilt werden. Die „Evangelien“-Dichtungen entſtammen einer ganz unwiſſen-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 455. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/471>, abgerufen am 25.11.2024.