Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.Anmerkungen und Erläuterungen. Wenn man also nur die Minimal-Zahl von 100 Jahrmillionen (nichtdie Maximal-Zahl von 1400!) für die Zeitdauer der organischen Entwickelung auf unserem Erdball annimmt und diese auf 24 Stunden projicirt, so be- trägt davon die sogenannte "Weltgeschichte" nur fünf Sekunden (Prometheus, Jahrg. X, 1899, Nr. 24 [Nr. 492, S. 381]). 2) Wesen der Krankheit (S. 58). Die Pathologie oder Krankheits- lehre ist erst in unserem 19. Jahrhundert zu einer wirklichen Wissenschaft geworden, seitdem die Grundlehren der Physiologie (und besonders der Zellentheorie) ebenso auf den kranken wie auf den gesunden Organismus des Menschen angewendet wurden. Seitdem gilt die Krankheit nicht mehr als ein besonderes "Wesen", sondern als ein "Leben unter abnormen, schädlichen und gefahrdrohenden Bedingungen". Seitdem sucht auch jeder gebildete Arzt die Ursachen der Krankheiten nicht mehr in mystischen Ein- flüssen übernatürlicher Art, sondern in den physikalischen und chemischen Bedingungen der Außenwelt und ihren Beziehungen zum Organismus. Eine große Rolle spielen dabei die kleinen Bakterien. Trotzdem wird auch heute noch in weiten Kreisen (selbst unter "Gebildeten"!) die alte, aber- gläubische Ansicht festgehalten, daß die Krankheiten durch "böse Geister" hervor- gerufen werden, oder daß sie "Strafen der Gottheit für die Sünden der Menschen" sind. Letztere Ansicht vertrat z. B. noch um die Mitte des Jahrhunderts der angesehene Pathologe Geheimrath Ringseis in München. 3) Impotenz der introspektiven Psychologie (S. 111). Um sich zu überzeugen, daß die althergebrachte metaphysische Seelenlehre ganz außer Stande ist, die großen Aufgaben dieser Wissenschaft durch bloße Analyse der eigenen Denkthätigkeit zu lösen, braucht man nur einen Blick in die gangbarsten Lehrbücher der modernen Psychologie zu thun, wie sie den meisten akademischen Vorlesungen darüber als Leitfaden dienen. Da ist weder von der anatomischen Struktur der Seelen-Organe noch von den physiologischen Verhältnissen ihrer Funktionen die Rede, weder von der Ontogenie noch von der Phylogenie der Psyche. Statt dessen phantasiren diese "reinen Psychologen" über das immaterielle "Wesen der Seele", von dem Niemand etwas weiß, und schreiben diesem unsterblichen Phantom alle möglichen Wunderthaten zu. Nebenbei schimpfen sie weidlich über die bösen materialistischen Naturforscher, die sich erlauben, an der Hand der Erfahrung, der Beobachtung, des Experimentes die Nichtigkeit ihrer metaphysischen Hirngespinnste nachzuweisen. Ein ergötzliches Beispiel solcher ordinären Schimpferei lieferte neuerdings Dr. Adolf Wagner in seiner Schrift: "Grundprobleme der Naturwissenschaft. Briefe eines unmodernen Naturforschers." Berlin 1897. Der kürzlich verstorbene Führer des modernen Materialismus, Prof. Ludwig Büchner, der auf's Schärfste angegriffen war, hat darauf die gebührende Antwort gegeben (Berliner "Gegenwart", 1897, Nr. 40, S. 218 und Münchener "Allgemeine Zeitung", Beilage, 20. März 1899, Nr.58). -- Ein Gesinnungsgenosse von Dr. Adolf Wagner, Anmerkungen und Erläuterungen. Wenn man alſo nur die Minimal-Zahl von 100 Jahrmillionen (nichtdie Maximal-Zahl von 1400!) für die Zeitdauer der organiſchen Entwickelung auf unſerem Erdball annimmt und dieſe auf 24 Stunden projicirt, ſo be- trägt davon die ſogenannte „Weltgeſchichte“ nur fünf Sekunden (Prometheus, Jahrg. X, 1899, Nr. 24 [Nr. 492, S. 381]). 2) Weſen der Krankheit (S. 58). Die Pathologie oder Krankheits- lehre iſt erſt in unſerem 19. Jahrhundert zu einer wirklichen Wiſſenſchaft geworden, ſeitdem die Grundlehren der Phyſiologie (und beſonders der Zellentheorie) ebenſo auf den kranken wie auf den geſunden Organismus des Menſchen angewendet wurden. Seitdem gilt die Krankheit nicht mehr als ein beſonderes „Weſen“, ſondern als ein „Leben unter abnormen, ſchädlichen und gefahrdrohenden Bedingungen“. Seitdem ſucht auch jeder gebildete Arzt die Urſachen der Krankheiten nicht mehr in myſtiſchen Ein- flüſſen übernatürlicher Art, ſondern in den phyſikaliſchen und chemiſchen Bedingungen der Außenwelt und ihren Beziehungen zum Organismus. Eine große Rolle ſpielen dabei die kleinen Bakterien. Trotzdem wird auch heute noch in weiten Kreiſen (ſelbſt unter „Gebildeten“!) die alte, aber- gläubiſche Anſicht feſtgehalten, daß die Krankheiten durch „böſe Geiſter“ hervor- gerufen werden, oder daß ſie „Strafen der Gottheit für die Sünden der Menſchen“ ſind. Letztere Anſicht vertrat z. B. noch um die Mitte des Jahrhunderts der angeſehene Pathologe Geheimrath Ringseis in München. 3) Impotenz der introſpektiven Pſychologie (S. 111). Um ſich zu überzeugen, daß die althergebrachte metaphyſiſche Seelenlehre ganz außer Stande iſt, die großen Aufgaben dieſer Wiſſenſchaft durch bloße Analyſe der eigenen Denkthätigkeit zu löſen, braucht man nur einen Blick in die gangbarſten Lehrbücher der modernen Pſychologie zu thun, wie ſie den meiſten akademiſchen Vorleſungen darüber als Leitfaden dienen. Da iſt weder von der anatomiſchen Struktur der Seelen-Organe noch von den phyſiologiſchen Verhältniſſen ihrer Funktionen die Rede, weder von der Ontogenie noch von der Phylogenie der Pſyche. Statt deſſen phantaſiren dieſe „reinen Pſychologen“ über das immaterielle „Weſen der Seele“, von dem Niemand etwas weiß, und ſchreiben dieſem unſterblichen Phantom alle möglichen Wunderthaten zu. Nebenbei ſchimpfen ſie weidlich über die böſen materialiſtiſchen Naturforſcher, die ſich erlauben, an der Hand der Erfahrung, der Beobachtung, des Experimentes die Nichtigkeit ihrer metaphyſiſchen Hirngeſpinnſte nachzuweiſen. Ein ergötzliches Beiſpiel ſolcher ordinären Schimpferei lieferte neuerdings Dr. Adolf Wagner in ſeiner Schrift: „Grundprobleme der Naturwiſſenſchaft. Briefe eines unmodernen Naturforſchers.“ Berlin 1897. Der kürzlich verſtorbene Führer des modernen Materialismus, Prof. Ludwig Büchner, der auf's Schärfſte angegriffen war, hat darauf die gebührende Antwort gegeben (Berliner „Gegenwart“, 1897, Nr. 40, S. 218 und Münchener „Allgemeine Zeitung“, Beilage, 20. März 1899, Nr.58). — Ein Geſinnungsgenoſſe von Dr. Adolf Wagner, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <note xml:id="end02_1" prev="#end1" place="end" n="1)"><pb facs="#f0459" n="443"/><fw place="top" type="header">Anmerkungen und Erläuterungen.</fw><lb/> Wenn man alſo nur die Minimal-Zahl von 100 Jahrmillionen (nicht<lb/> die Maximal-Zahl von 1400!) für die Zeitdauer der organiſchen Entwickelung<lb/> auf unſerem Erdball annimmt und dieſe auf 24 Stunden projicirt, ſo be-<lb/> trägt davon die ſogenannte „<hi rendition="#g">Weltgeſchichte</hi>“ nur <hi rendition="#g">fünf Sekunden<lb/> (Prometheus,</hi> Jahrg. <hi rendition="#aq">X</hi>, 1899, Nr. 24 [Nr. 492, S. 381]).</note><lb/> <note xml:id="end02_2" prev="#end2" place="end" n="2)"><hi rendition="#b">Weſen der Krankheit</hi> (S. 58). Die <hi rendition="#g">Pathologie</hi> oder Krankheits-<lb/> lehre iſt erſt in unſerem 19. 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Anmerkungen und Erläuterungen.
¹⁾
Wenn man alſo nur die Minimal-Zahl von 100 Jahrmillionen (nicht
die Maximal-Zahl von 1400!) für die Zeitdauer der organiſchen Entwickelung
auf unſerem Erdball annimmt und dieſe auf 24 Stunden projicirt, ſo be-
trägt davon die ſogenannte „Weltgeſchichte“ nur fünf Sekunden
(Prometheus, Jahrg. X, 1899, Nr. 24 [Nr. 492, S. 381]).
²⁾ Weſen der Krankheit (S. 58). Die Pathologie oder Krankheits-
lehre iſt erſt in unſerem 19. Jahrhundert zu einer wirklichen Wiſſenſchaft
geworden, ſeitdem die Grundlehren der Phyſiologie (und beſonders der
Zellentheorie) ebenſo auf den kranken wie auf den geſunden Organismus
des Menſchen angewendet wurden. Seitdem gilt die Krankheit nicht mehr
als ein beſonderes „Weſen“, ſondern als ein „Leben unter abnormen,
ſchädlichen und gefahrdrohenden Bedingungen“. Seitdem ſucht auch jeder
gebildete Arzt die Urſachen der Krankheiten nicht mehr in myſtiſchen Ein-
flüſſen übernatürlicher Art, ſondern in den phyſikaliſchen und chemiſchen
Bedingungen der Außenwelt und ihren Beziehungen zum Organismus.
Eine große Rolle ſpielen dabei die kleinen Bakterien. Trotzdem wird
auch heute noch in weiten Kreiſen (ſelbſt unter „Gebildeten“!) die alte, aber-
gläubiſche Anſicht feſtgehalten, daß die Krankheiten durch „böſe Geiſter“ hervor-
gerufen werden, oder daß ſie „Strafen der Gottheit für die Sünden der
Menſchen“ ſind. Letztere Anſicht vertrat z. B. noch um die Mitte des
Jahrhunderts der angeſehene Pathologe Geheimrath Ringseis in München.
³⁾ Impotenz der introſpektiven Pſychologie (S. 111). Um ſich zu
überzeugen, daß die althergebrachte metaphyſiſche Seelenlehre ganz außer
Stande iſt, die großen Aufgaben dieſer Wiſſenſchaft durch bloße Analyſe
der eigenen Denkthätigkeit zu löſen, braucht man nur einen Blick in die
gangbarſten Lehrbücher der modernen Pſychologie zu thun, wie ſie den
meiſten akademiſchen Vorleſungen darüber als Leitfaden dienen. Da iſt
weder von der anatomiſchen Struktur der Seelen-Organe noch von den
phyſiologiſchen Verhältniſſen ihrer Funktionen die Rede, weder von der
Ontogenie noch von der Phylogenie der Pſyche. Statt deſſen phantaſiren
dieſe „reinen Pſychologen“ über das immaterielle „Weſen der Seele“,
von dem Niemand etwas weiß, und ſchreiben dieſem unſterblichen Phantom
alle möglichen Wunderthaten zu. Nebenbei ſchimpfen ſie weidlich über die
böſen materialiſtiſchen Naturforſcher, die ſich erlauben, an der Hand der
Erfahrung, der Beobachtung, des Experimentes die Nichtigkeit ihrer
metaphyſiſchen Hirngeſpinnſte nachzuweiſen. Ein ergötzliches Beiſpiel ſolcher
ordinären Schimpferei lieferte neuerdings Dr. Adolf Wagner in ſeiner
Schrift: „Grundprobleme der Naturwiſſenſchaft. Briefe eines unmodernen
Naturforſchers.“ Berlin 1897. Der kürzlich verſtorbene Führer des modernen
Materialismus, Prof. Ludwig Büchner, der auf's Schärfſte angegriffen
war, hat darauf die gebührende Antwort gegeben (Berliner „Gegenwart“,
1897, Nr. 40, S. 218 und Münchener „Allgemeine Zeitung“, Beilage,
20. März 1899, Nr.58). — Ein Geſinnungsgenoſſe von Dr. Adolf Wagner,
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