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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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XIX. Leibes-Verachtung des Christenthums.
mehr als von jeder anderen im Munde geführt wird. Uebrigens
ist ja der offenkundige Widerspruch zwischen der empfohlenen
idealen, altruistischen Moral des einzelnen Menschen und
der realen, rein egoistischen Moral der menschlichen Ge-
meinden,
und besonders der christlichen Kultur-Staaten, eine
allbekannte Thatsache. Es wäre interessant, mathematisch fest-
zustellen, bei welcher Zahl von vereinigten Menschen das
altruistische Sitten-Ideal der einzelnen Person sich in sein
Gegentheil verwandelt, in die rein egoistische "Real-Politik"
der Staaten und Nationen?

II. Die Leibes-Verachtung des Christenthums.
Da der christliche Glaube den Organismus des Menschen ganz
dualistisch beurtheilt und der unsterblichen Seele nur einen vor-
übergehenden Aufenthalt im sterblichen Leibe anweist, ist es ganz
natürlich, daß der ersteren ein viel höherer Werth beigemessen
wird als dem letzteren. Daraus folgt jene Vernachlässigung
der Leibespflege, der körperlichen Ausbildung und Reinlichkeit,
welche das Kulturleben des christlichen Mittelalters sehr unvortheil-
haft vor demjenigen des heidnischen klassischen Alterthums aus-
zeichnet. In der christlichen Sittenlehre fehlen jene strengen
Gebote der täglichen Waschungen und der sorgfältigen Körper-
pflege, die wir in der mohammedanischen, indischen und anderen
Religionen nicht nur theoretisch festgesetzt, sondern auch praktisch
ausgeführt sehen. Das Ideal des frommen Christen ist in vielen
Klöstern der Mensch, der sich niemals ordentlich wäscht und kleidet,
der seine übel riechende Kutte niemals wechselt, und der statt
ordentlicher Arbeit sein faules Leben mit gedankenlosen Bet-
übungen, sinnlosem Fasten u. s. w. zubringt. Als Auswüchse
dieser Leibesverachtung möge noch an die widerwärtigen Buß-
übungen der Geißler und anderer Asketiker erinnert werden.

III. Die Natur-Verachtung des Christenthums.
Eine Quelle von unzähligen theoretischen Irrthümern und prak-

XIX. Leibes-Verachtung des Chriſtenthums.
mehr als von jeder anderen im Munde geführt wird. Uebrigens
iſt ja der offenkundige Widerſpruch zwiſchen der empfohlenen
idealen, altruiſtiſchen Moral des einzelnen Menſchen und
der realen, rein egoiſtiſchen Moral der menſchlichen Ge-
meinden,
und beſonders der chriſtlichen Kultur-Staaten, eine
allbekannte Thatſache. Es wäre intereſſant, mathematiſch feſt-
zuſtellen, bei welcher Zahl von vereinigten Menſchen das
altruiſtiſche Sitten-Ideal der einzelnen Perſon ſich in ſein
Gegentheil verwandelt, in die rein egoiſtiſche „Real-Politik“
der Staaten und Nationen?

II. Die Leibes-Verachtung des Chriſtenthums.
Da der chriſtliche Glaube den Organismus des Menſchen ganz
dualiſtiſch beurtheilt und der unſterblichen Seele nur einen vor-
übergehenden Aufenthalt im ſterblichen Leibe anweiſt, iſt es ganz
natürlich, daß der erſteren ein viel höherer Werth beigemeſſen
wird als dem letzteren. Daraus folgt jene Vernachläſſigung
der Leibespflege, der körperlichen Ausbildung und Reinlichkeit,
welche das Kulturleben des chriſtlichen Mittelalters ſehr unvortheil-
haft vor demjenigen des heidniſchen klaſſiſchen Alterthums aus-
zeichnet. In der chriſtlichen Sittenlehre fehlen jene ſtrengen
Gebote der täglichen Waſchungen und der ſorgfältigen Körper-
pflege, die wir in der mohammedaniſchen, indiſchen und anderen
Religionen nicht nur theoretiſch feſtgeſetzt, ſondern auch praktiſch
ausgeführt ſehen. Das Ideal des frommen Chriſten iſt in vielen
Klöſtern der Menſch, der ſich niemals ordentlich wäſcht und kleidet,
der ſeine übel riechende Kutte niemals wechſelt, und der ſtatt
ordentlicher Arbeit ſein faules Leben mit gedankenloſen Bet-
übungen, ſinnloſem Faſten u. ſ. w. zubringt. Als Auswüchſe
dieſer Leibesverachtung möge noch an die widerwärtigen Buß-
übungen der Geißler und anderer Asketiker erinnert werden.

III. Die Natur-Verachtung des Chriſtenthums.
Eine Quelle von unzähligen theoretiſchen Irrthümern und prak-

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[409/0425] XIX. Leibes-Verachtung des Chriſtenthums. mehr als von jeder anderen im Munde geführt wird. Uebrigens iſt ja der offenkundige Widerſpruch zwiſchen der empfohlenen idealen, altruiſtiſchen Moral des einzelnen Menſchen und der realen, rein egoiſtiſchen Moral der menſchlichen Ge- meinden, und beſonders der chriſtlichen Kultur-Staaten, eine allbekannte Thatſache. Es wäre intereſſant, mathematiſch feſt- zuſtellen, bei welcher Zahl von vereinigten Menſchen das altruiſtiſche Sitten-Ideal der einzelnen Perſon ſich in ſein Gegentheil verwandelt, in die rein egoiſtiſche „Real-Politik“ der Staaten und Nationen? II. Die Leibes-Verachtung des Chriſtenthums. Da der chriſtliche Glaube den Organismus des Menſchen ganz dualiſtiſch beurtheilt und der unſterblichen Seele nur einen vor- übergehenden Aufenthalt im ſterblichen Leibe anweiſt, iſt es ganz natürlich, daß der erſteren ein viel höherer Werth beigemeſſen wird als dem letzteren. Daraus folgt jene Vernachläſſigung der Leibespflege, der körperlichen Ausbildung und Reinlichkeit, welche das Kulturleben des chriſtlichen Mittelalters ſehr unvortheil- haft vor demjenigen des heidniſchen klaſſiſchen Alterthums aus- zeichnet. In der chriſtlichen Sittenlehre fehlen jene ſtrengen Gebote der täglichen Waſchungen und der ſorgfältigen Körper- pflege, die wir in der mohammedaniſchen, indiſchen und anderen Religionen nicht nur theoretiſch feſtgeſetzt, ſondern auch praktiſch ausgeführt ſehen. Das Ideal des frommen Chriſten iſt in vielen Klöſtern der Menſch, der ſich niemals ordentlich wäſcht und kleidet, der ſeine übel riechende Kutte niemals wechſelt, und der ſtatt ordentlicher Arbeit ſein faules Leben mit gedankenloſen Bet- übungen, ſinnloſem Faſten u. ſ. w. zubringt. Als Auswüchſe dieſer Leibesverachtung möge noch an die widerwärtigen Buß- übungen der Geißler und anderer Asketiker erinnert werden. III. Die Natur-Verachtung des Chriſtenthums. Eine Quelle von unzähligen theoretiſchen Irrthümern und prak-

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 409. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/425>, abgerufen am 27.11.2024.