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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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XVII. Reformation und Wissenschaft.
daran. Denn mit der Reformation beginnt die Wieder-
geburt der gefesselten Vernunft
, das Wiedererwachen
der Wissenschaft, welche die eiserne Faust des christlichen Papis-
mus durch 1200 Jahre gewaltsam niedergehalten hatte. Aller-
dings hatte die Verbreitung allgemeiner Bildung durch die
Buchdruckerkunst schon um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts
begonnen, und gegen Ende desselben traten mehrere große Er-
eignisse ein, welche im Verein mit der "Renaissance" der
Kunst auch diejenige der Wissenschaft vorbereiteten, vor Allem
die Entdeckung von Amerika (1492). Auch wurden in der ersten
Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts mehrere höchst wichtige
Fortschritte in der Erkenntniß der Natur gemacht, welche die
bestehende Weltanschauung in ihren Grundfesten erschütterten;
so die erste Umschiffung der Erde durch Magellan, welche den
empirischen Beweis für ihre Kugelgestalt lieferte (1522); die
Gründung des neuen Weltsystems durch Kopernikus (1543).
Aber der 31. Oktober 1517, an welchem Martin Luther
seine 95 Thesen an die hölzerne Thür der Schloßkirche zu
Wittenberg nagelte, bleibt daneben ein weltgeschichtlicher Tag;
denn damit wurde die eiserne Thür des Kerkers gesprengt, in
dem der papistische Absolutismus durch 1200 Jahre die ge-
fesselte Vernunft eingeschlossen gehalten hatte. Man hat die
Verdienste des großen Reformators, der auf der Wartburg die
Bibel übersetzte, theils übertrieben, theils unterschätzt; man hat
auch mit Recht darauf hingewiesen, wie er gleich den anderen
Reformatoren noch vielfach im tiefsten Aberglauben befangen
blieb. So konnte sich Luther zeitlebens nicht von dem starren
Buchstabenglauben der Bibel befreien; er vertheidigte eifrig die
Lehren von der Auferstehung, der Erbsünde und Prädestination,
der Rechtfertigung durch den Glauben u. s. w. Die gewaltige
Geistesthat des Kopernikus verwarf er als Narrheit, weil in
der Bibel "Josua die Sonne stillstehen hieß und nicht das

Haeckel, Welträthsel. 24

XVII. Reformation und Wiſſenſchaft.
daran. Denn mit der Reformation beginnt die Wieder-
geburt der gefeſſelten Vernunft
, das Wiedererwachen
der Wiſſenſchaft, welche die eiſerne Fauſt des chriſtlichen Papis-
mus durch 1200 Jahre gewaltſam niedergehalten hatte. Aller-
dings hatte die Verbreitung allgemeiner Bildung durch die
Buchdruckerkunſt ſchon um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts
begonnen, und gegen Ende desſelben traten mehrere große Er-
eigniſſe ein, welche im Verein mit der „Renaiſſance“ der
Kunſt auch diejenige der Wiſſenſchaft vorbereiteten, vor Allem
die Entdeckung von Amerika (1492). Auch wurden in der erſten
Hälfte des ſechzehnten Jahrhunderts mehrere höchſt wichtige
Fortſchritte in der Erkenntniß der Natur gemacht, welche die
beſtehende Weltanſchauung in ihren Grundfeſten erſchütterten;
ſo die erſte Umſchiffung der Erde durch Magellan, welche den
empiriſchen Beweis für ihre Kugelgeſtalt lieferte (1522); die
Gründung des neuen Weltſyſtems durch Kopernikus (1543).
Aber der 31. Oktober 1517, an welchem Martin Luther
ſeine 95 Theſen an die hölzerne Thür der Schloßkirche zu
Wittenberg nagelte, bleibt daneben ein weltgeſchichtlicher Tag;
denn damit wurde die eiſerne Thür des Kerkers geſprengt, in
dem der papiſtiſche Abſolutismus durch 1200 Jahre die ge-
feſſelte Vernunft eingeſchloſſen gehalten hatte. Man hat die
Verdienſte des großen Reformators, der auf der Wartburg die
Bibel überſetzte, theils übertrieben, theils unterſchätzt; man hat
auch mit Recht darauf hingewieſen, wie er gleich den anderen
Reformatoren noch vielfach im tiefſten Aberglauben befangen
blieb. So konnte ſich Luther zeitlebens nicht von dem ſtarren
Buchſtabenglauben der Bibel befreien; er vertheidigte eifrig die
Lehren von der Auferſtehung, der Erbſünde und Prädeſtination,
der Rechtfertigung durch den Glauben u. ſ. w. Die gewaltige
Geiſtesthat des Kopernikus verwarf er als Narrheit, weil in
der Bibel „Joſua die Sonne ſtillſtehen hieß und nicht das

Haeckel, Welträthſel. 24
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[369/0385] XVII. Reformation und Wiſſenſchaft. daran. Denn mit der Reformation beginnt die Wieder- geburt der gefeſſelten Vernunft, das Wiedererwachen der Wiſſenſchaft, welche die eiſerne Fauſt des chriſtlichen Papis- mus durch 1200 Jahre gewaltſam niedergehalten hatte. Aller- dings hatte die Verbreitung allgemeiner Bildung durch die Buchdruckerkunſt ſchon um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts begonnen, und gegen Ende desſelben traten mehrere große Er- eigniſſe ein, welche im Verein mit der „Renaiſſance“ der Kunſt auch diejenige der Wiſſenſchaft vorbereiteten, vor Allem die Entdeckung von Amerika (1492). Auch wurden in der erſten Hälfte des ſechzehnten Jahrhunderts mehrere höchſt wichtige Fortſchritte in der Erkenntniß der Natur gemacht, welche die beſtehende Weltanſchauung in ihren Grundfeſten erſchütterten; ſo die erſte Umſchiffung der Erde durch Magellan, welche den empiriſchen Beweis für ihre Kugelgeſtalt lieferte (1522); die Gründung des neuen Weltſyſtems durch Kopernikus (1543). Aber der 31. Oktober 1517, an welchem Martin Luther ſeine 95 Theſen an die hölzerne Thür der Schloßkirche zu Wittenberg nagelte, bleibt daneben ein weltgeſchichtlicher Tag; denn damit wurde die eiſerne Thür des Kerkers geſprengt, in dem der papiſtiſche Abſolutismus durch 1200 Jahre die ge- feſſelte Vernunft eingeſchloſſen gehalten hatte. Man hat die Verdienſte des großen Reformators, der auf der Wartburg die Bibel überſetzte, theils übertrieben, theils unterſchätzt; man hat auch mit Recht darauf hingewieſen, wie er gleich den anderen Reformatoren noch vielfach im tiefſten Aberglauben befangen blieb. So konnte ſich Luther zeitlebens nicht von dem ſtarren Buchſtabenglauben der Bibel befreien; er vertheidigte eifrig die Lehren von der Auferſtehung, der Erbſünde und Prädeſtination, der Rechtfertigung durch den Glauben u. ſ. w. Die gewaltige Geiſtesthat des Kopernikus verwarf er als Narrheit, weil in der Bibel „Joſua die Sonne ſtillſtehen hieß und nicht das Haeckel, Welträthſel. 24

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/385>, abgerufen am 23.11.2024.