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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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XVII. Ursprung der Evangelien.
wahl durch ein göttliches Wunder bewirken zu lassen; man
legte alle Bücher zusammen unter den Altar und betete, daß die
unechten, menschlichen Ursprungs, darunter liegen bleiben
möchten, die echten, von Gott selbst eingegebenen dagegen auf
den Tisch des Herrn hinauf hüpfen möchten. Und das geschah
wirklich! Die drei synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus,
Lukas -- alle drei nicht von ihnen, sondern nach ihnen nieder-
geschrieben, im Beginn des zweiten Jahrhunderts --) und das
ganz verschiedene vierte Evangelium (angeblich nach Johannes,
in der Mitte des zweiten Jahrhunderts abgefaßt), alle vier
hüpften auf den Tisch und wurden nunmehr zu echten (tausend-
fach sich widersprechenden!) Grundlagen der christlichen Glaubens-
lehre. (Vergl. Saladin). Sollte ein moderner "Ungläubiger" dieses
"Bücherhüpfen" unglaubwürdig finden, so erinnern wir ihn
daran, daß das ebenso glaubhafte "Tischrücken" und "Geister-
klopfen
" noch heute von Millionen "gebildeter" Spiritisten
fest geglaubt wird; und Hunderte von Millionen gläubiger
Christen sind noch heute ebenso fest von ihrer eigenen Un-
sterblichkeit, ihrer "Auferstehung nach dem Tode" und von der
"Dreieinigkeit Gottes" überzeugt -- Dogmen, welche der reinen
Vernunft nicht mehr und nicht weniger widersprechen als jenes
wunderbare Springen der Evangelien-Handschriften.12

Nächst den Evangelien sind bekanntlich die wichtigsten
Quellen die 14 verschiedenen (größtentheils gefälschten!) Episteln
des Apostels Paulus. Die echten paulinischen Briefe (der
neueren Kritik zufolge nur drei: an die Römer, Galater und
Korinther) sind sämmtlich früher niedergeschrieben als die vier
kanonischen Evangelien und enthalten weniger unglaubliche
Wundersagen als die letzteren; auch suchen sie mehr als diese
sich mit einer vernünftigen Weltanschauung zu vereinigen. Die
aufgeklärte Theologie der Neuzeit konstruirt daher theilweise ihr
ideales Christenthum mehr auf Grund der Paulus-Briefe

XVII. Urſprung der Evangelien.
wahl durch ein göttliches Wunder bewirken zu laſſen; man
legte alle Bücher zuſammen unter den Altar und betete, daß die
unechten, menſchlichen Urſprungs, darunter liegen bleiben
möchten, die echten, von Gott ſelbſt eingegebenen dagegen auf
den Tiſch des Herrn hinauf hüpfen möchten. Und das geſchah
wirklich! Die drei ſynoptiſchen Evangelien (Matthäus, Markus,
Lukas — alle drei nicht von ihnen, ſondern nach ihnen nieder-
geſchrieben, im Beginn des zweiten Jahrhunderts —) und das
ganz verſchiedene vierte Evangelium (angeblich nach Johannes,
in der Mitte des zweiten Jahrhunderts abgefaßt), alle vier
hüpften auf den Tiſch und wurden nunmehr zu echten (tauſend-
fach ſich widerſprechenden!) Grundlagen der chriſtlichen Glaubens-
lehre. (Vergl. Saladin). Sollte ein moderner „Ungläubiger“ dieſes
Bücherhüpfen“ unglaubwürdig finden, ſo erinnern wir ihn
daran, daß das ebenſo glaubhafte „Tiſchrücken“ und „Geiſter-
klopfen
“ noch heute von Millionen „gebildeter“ Spiritiſten
feſt geglaubt wird; und Hunderte von Millionen gläubiger
Chriſten ſind noch heute ebenſo feſt von ihrer eigenen Un-
ſterblichkeit, ihrer „Auferſtehung nach dem Tode“ und von der
„Dreieinigkeit Gottes“ überzeugt — Dogmen, welche der reinen
Vernunft nicht mehr und nicht weniger widerſprechen als jenes
wunderbare Springen der Evangelien-Handſchriften.12

Nächſt den Evangelien ſind bekanntlich die wichtigſten
Quellen die 14 verſchiedenen (größtentheils gefälſchten!) Epiſteln
des Apoſtels Paulus. Die echten pauliniſchen Briefe (der
neueren Kritik zufolge nur drei: an die Römer, Galater und
Korinther) ſind ſämmtlich früher niedergeſchrieben als die vier
kanoniſchen Evangelien und enthalten weniger unglaubliche
Wunderſagen als die letzteren; auch ſuchen ſie mehr als dieſe
ſich mit einer vernünftigen Weltanſchauung zu vereinigen. Die
aufgeklärte Theologie der Neuzeit konſtruirt daher theilweiſe ihr
ideales Chriſtenthum mehr auf Grund der Paulus-Briefe

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[361/0377] XVII. Urſprung der Evangelien. wahl durch ein göttliches Wunder bewirken zu laſſen; man legte alle Bücher zuſammen unter den Altar und betete, daß die unechten, menſchlichen Urſprungs, darunter liegen bleiben möchten, die echten, von Gott ſelbſt eingegebenen dagegen auf den Tiſch des Herrn hinauf hüpfen möchten. Und das geſchah wirklich! Die drei ſynoptiſchen Evangelien (Matthäus, Markus, Lukas — alle drei nicht von ihnen, ſondern nach ihnen nieder- geſchrieben, im Beginn des zweiten Jahrhunderts —) und das ganz verſchiedene vierte Evangelium (angeblich nach Johannes, in der Mitte des zweiten Jahrhunderts abgefaßt), alle vier hüpften auf den Tiſch und wurden nunmehr zu echten (tauſend- fach ſich widerſprechenden!) Grundlagen der chriſtlichen Glaubens- lehre. (Vergl. Saladin). Sollte ein moderner „Ungläubiger“ dieſes „Bücherhüpfen“ unglaubwürdig finden, ſo erinnern wir ihn daran, daß das ebenſo glaubhafte „Tiſchrücken“ und „Geiſter- klopfen“ noch heute von Millionen „gebildeter“ Spiritiſten feſt geglaubt wird; und Hunderte von Millionen gläubiger Chriſten ſind noch heute ebenſo feſt von ihrer eigenen Un- ſterblichkeit, ihrer „Auferſtehung nach dem Tode“ und von der „Dreieinigkeit Gottes“ überzeugt — Dogmen, welche der reinen Vernunft nicht mehr und nicht weniger widerſprechen als jenes wunderbare Springen der Evangelien-Handſchriften. ¹² Nächſt den Evangelien ſind bekanntlich die wichtigſten Quellen die 14 verſchiedenen (größtentheils gefälſchten!) Epiſteln des Apoſtels Paulus. Die echten pauliniſchen Briefe (der neueren Kritik zufolge nur drei: an die Römer, Galater und Korinther) ſind ſämmtlich früher niedergeſchrieben als die vier kanoniſchen Evangelien und enthalten weniger unglaubliche Wunderſagen als die letzteren; auch ſuchen ſie mehr als dieſe ſich mit einer vernünftigen Weltanſchauung zu vereinigen. Die aufgeklärte Theologie der Neuzeit konſtruirt daher theilweiſe ihr ideales Chriſtenthum mehr auf Grund der Paulus-Briefe

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/377>, abgerufen am 27.11.2024.