Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.XVI. Grenzen der Sinnesthätigkeit. der Wirbelthiere einen anderen und verwickelteren Bau als beiden übrigen Thieren und entwickeln sich auch im Embryo der- selben auf eigenthümliche Weise. Diese typische Ontogenese und Struktur der Sensillen bei sämmtlichen Wirbelthieren erklärt sich durch Vererbung von einer gemeinsamen Stammform. Inner- halb des Stammes aber zeigt sich eine große Mannigfaltigkeit der Ausbildung im Einzelnen, und diese ist bedingt durch die Anpassung an die Lebensweise der einzelnen Arten, durch den gesteigerten oder geminderten Gebrauch der einzelnen Theile. Der Mensch erscheint nun in Bezug auf die Ausbildung Wir selbst können natürlich nur über diejenigen Sinnes- XVI. Grenzen der Sinnesthätigkeit. der Wirbelthiere einen anderen und verwickelteren Bau als beiden übrigen Thieren und entwickeln ſich auch im Embryo der- ſelben auf eigenthümliche Weiſe. Dieſe typiſche Ontogeneſe und Struktur der Senſillen bei ſämmtlichen Wirbelthieren erklärt ſich durch Vererbung von einer gemeinſamen Stammform. Inner- halb des Stammes aber zeigt ſich eine große Mannigfaltigkeit der Ausbildung im Einzelnen, und dieſe iſt bedingt durch die Anpaſſung an die Lebensweiſe der einzelnen Arten, durch den geſteigerten oder geminderten Gebrauch der einzelnen Theile. Der Menſch erſcheint nun in Bezug auf die Ausbildung Wir ſelbſt können natürlich nur über diejenigen Sinnes- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0359" n="343"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">XVI.</hi> Grenzen der Sinnesthätigkeit.</fw><lb/> der Wirbelthiere einen anderen und verwickelteren Bau als bei<lb/> den übrigen Thieren und entwickeln ſich auch im Embryo der-<lb/> ſelben auf eigenthümliche Weiſe. Dieſe typiſche Ontogeneſe und<lb/> Struktur der Senſillen bei ſämmtlichen Wirbelthieren erklärt ſich<lb/> durch <hi rendition="#g">Vererbung</hi> von einer gemeinſamen Stammform. Inner-<lb/> halb des Stammes aber zeigt ſich eine große Mannigfaltigkeit<lb/> der Ausbildung im Einzelnen, und dieſe iſt bedingt durch die<lb/><hi rendition="#g">Anpaſſung</hi> an die Lebensweiſe der einzelnen Arten, durch den<lb/> geſteigerten oder geminderten Gebrauch der einzelnen Theile.</p><lb/> <p>Der Menſch erſcheint nun in Bezug auf die Ausbildung<lb/> ſeiner Sinne keineswegs als das vollkommenſte und höchſtent-<lb/> wickelte Wirbelthier. Das Auge der Vögel iſt viel ſchärfer und<lb/> unterſcheidet kleine Gegenſtände auf weite Entfernung viel deut-<lb/> licher als das menſchliche Auge. Das Gehör vieler Säugethiere,<lb/> beſonders der in Wüſten lebenden Raubthiere, Hufthiere, Nage-<lb/> thiere u. ſ. w., iſt viel empfindlicher als das menſchliche und<lb/> nimmt leiſe Geräuſche auf viel weitere Entfernungen wahr;<lb/> darauf weiſt ſchon ihre große und ſehr bewegliche Ohrmuſchel<lb/> hin. Die Singvögel offenbaren ſelbſt in Bezug auf muſikaliſche<lb/> Begabung eine höhere Entwickelungsſtufe als viele Menſchen.<lb/> Der Geruchsſinn iſt bei den meiſten Säugethieren, namentlich<lb/> Raubthieren und Hufthieren, viel mehr ausgebildet als beim<lb/> Menſchen; wenn der Hund ſeine eigene feine Spürnaſe mit der-<lb/> jenigen des Menſchen vergleichen könnte, würde er mitleidig auf<lb/> letztere herabſehen. Auch in Bezug auf die niederen Sinne, den<lb/> Geſchmacksſinn, den Geſchlechtsſinn, den Taſtſinn und den Tem-<lb/> peraturſinn, behauptet der Menſch keineswegs in jeder Beziehung<lb/> die höchſte Entwickelungsſtufe.</p><lb/> <p>Wir ſelbſt können natürlich nur über diejenigen Sinnes-<lb/> empfindungen urtheilen, die wir ſelbſt beſitzen. Nun weiſt uns<lb/> aber die Anatomie im Körper vieler Thiere noch andere als<lb/> unſere bekannten Sinnesorgane nach. So beſitzen die Fiſche<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [343/0359]
XVI. Grenzen der Sinnesthätigkeit.
der Wirbelthiere einen anderen und verwickelteren Bau als bei
den übrigen Thieren und entwickeln ſich auch im Embryo der-
ſelben auf eigenthümliche Weiſe. Dieſe typiſche Ontogeneſe und
Struktur der Senſillen bei ſämmtlichen Wirbelthieren erklärt ſich
durch Vererbung von einer gemeinſamen Stammform. Inner-
halb des Stammes aber zeigt ſich eine große Mannigfaltigkeit
der Ausbildung im Einzelnen, und dieſe iſt bedingt durch die
Anpaſſung an die Lebensweiſe der einzelnen Arten, durch den
geſteigerten oder geminderten Gebrauch der einzelnen Theile.
Der Menſch erſcheint nun in Bezug auf die Ausbildung
ſeiner Sinne keineswegs als das vollkommenſte und höchſtent-
wickelte Wirbelthier. Das Auge der Vögel iſt viel ſchärfer und
unterſcheidet kleine Gegenſtände auf weite Entfernung viel deut-
licher als das menſchliche Auge. Das Gehör vieler Säugethiere,
beſonders der in Wüſten lebenden Raubthiere, Hufthiere, Nage-
thiere u. ſ. w., iſt viel empfindlicher als das menſchliche und
nimmt leiſe Geräuſche auf viel weitere Entfernungen wahr;
darauf weiſt ſchon ihre große und ſehr bewegliche Ohrmuſchel
hin. Die Singvögel offenbaren ſelbſt in Bezug auf muſikaliſche
Begabung eine höhere Entwickelungsſtufe als viele Menſchen.
Der Geruchsſinn iſt bei den meiſten Säugethieren, namentlich
Raubthieren und Hufthieren, viel mehr ausgebildet als beim
Menſchen; wenn der Hund ſeine eigene feine Spürnaſe mit der-
jenigen des Menſchen vergleichen könnte, würde er mitleidig auf
letztere herabſehen. Auch in Bezug auf die niederen Sinne, den
Geſchmacksſinn, den Geſchlechtsſinn, den Taſtſinn und den Tem-
peraturſinn, behauptet der Menſch keineswegs in jeder Beziehung
die höchſte Entwickelungsſtufe.
Wir ſelbſt können natürlich nur über diejenigen Sinnes-
empfindungen urtheilen, die wir ſelbſt beſitzen. Nun weiſt uns
aber die Anatomie im Körper vieler Thiere noch andere als
unſere bekannten Sinnesorgane nach. So beſitzen die Fiſche
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