Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.Anthropistische Irrthümer. I. bedachtes Endziel der organischen Schöpfung und als ein prin-cipiell von dieser verschiedenes, gottähnliches Wesen auffaßt. Bei genauerer Kritik dieses einflußreichen Vorstellungs-Kreises ergiebt sich, daß derselbe eigentlich aus drei verschiedenen Dogmen besteht, die wir als den anthropocentrischen, anthropomor- phischen und anthropolatrischen Irrthum unterscheiden"*). I. Das anthropocentrische Dogma gipfelt in der Vor- stellung, daß der Mensch der vorbedachte Mittelpunkt und End- zweck alles Erdenlebens -- oder in weiterer Fassung der ganzen Welt -- sei. Da dieser Irrthum dem menschlichen Eigennutz äußerst erwünscht, und da er mit den Schöpfungs-Mythen der drei großen Mediterran-Religionen, mit den Dogmen der mosaischen, christlichen und mohammedanischen Lehre innig verwachsen ist, beherrscht er auch heute noch den größten Theil der Kulturwelt. -- II. Das anthropomorphische Dogma knüpft ebenfalls an die Schöpfungs-Mythen der drei genannten, sowie vieler anderer Religionen an. Es vergleicht die Weltschöpfung und Weltregierung Gottes mit den Kunst- schöpfungen eines sinnreichen Technikers oder "Maschinen-In- genieurs" und mit der Staatsregierung eines weisen Herrschers. "Gott der Herr" als Schöpfer, Erhalter und Regierer der Welt wird dabei in seinem Denken und Handeln durchaus menschen- ähnlich vorgestellt. Daraus folgt dann wieder umgekehrt, daß der Mensch gottähnlich ist. "Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde." Die ältere naive Mythologie ist reiner Homo- theismus und verleiht ihren Göttern Menschengestalt, Fleisch und Blut. Weniger vorstellbar ist die neuere mystische Theosophie, welche den persönlichen Gott als "unsichtbares" -- eigentlich gasförmiges! -- Wesen verehrt und ihn doch gleichzeitig nach *) E. Haeckel, Systematische Phylogenie. 1895. Bd. III, S. 646
bis 650: "Anthropogenie und Anthropismus". (Anthropolatrie bedeutet: "Göttliche Verehrung des menschlichen Wesens".) Anthropiſtiſche Irrthümer. I. bedachtes Endziel der organiſchen Schöpfung und als ein prin-cipiell von dieſer verſchiedenes, gottähnliches Weſen auffaßt. Bei genauerer Kritik dieſes einflußreichen Vorſtellungs-Kreiſes ergiebt ſich, daß derſelbe eigentlich aus drei verſchiedenen Dogmen beſteht, die wir als den anthropocentriſchen, anthropomor- phiſchen und anthropolatriſchen Irrthum unterſcheiden“*). I. Das anthropocentriſche Dogma gipfelt in der Vor- ſtellung, daß der Menſch der vorbedachte Mittelpunkt und End- zweck alles Erdenlebens — oder in weiterer Faſſung der ganzen Welt — ſei. Da dieſer Irrthum dem menſchlichen Eigennutz äußerſt erwünſcht, und da er mit den Schöpfungs-Mythen der drei großen Mediterran-Religionen, mit den Dogmen der moſaiſchen, chriſtlichen und mohammedaniſchen Lehre innig verwachſen iſt, beherrſcht er auch heute noch den größten Theil der Kulturwelt. — II. Das anthropomorphiſche Dogma knüpft ebenfalls an die Schöpfungs-Mythen der drei genannten, ſowie vieler anderer Religionen an. Es vergleicht die Weltſchöpfung und Weltregierung Gottes mit den Kunſt- ſchöpfungen eines ſinnreichen Technikers oder „Maſchinen-In- genieurs“ und mit der Staatsregierung eines weiſen Herrſchers. „Gott der Herr“ als Schöpfer, Erhalter und Regierer der Welt wird dabei in ſeinem Denken und Handeln durchaus menſchen- ähnlich vorgeſtellt. Daraus folgt dann wieder umgekehrt, daß der Menſch gottähnlich iſt. „Gott ſchuf den Menſchen nach ſeinem Bilde.“ Die ältere naive Mythologie iſt reiner Homo- theismus und verleiht ihren Göttern Menſchengeſtalt, Fleiſch und Blut. Weniger vorſtellbar iſt die neuere myſtiſche Theoſophie, welche den perſönlichen Gott als „unſichtbares“ — eigentlich gasförmiges! — Weſen verehrt und ihn doch gleichzeitig nach *) E. Haeckel, Syſtematiſche Phylogenie. 1895. Bd. III, S. 646
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Anthropiſtiſche Irrthümer. I.
bedachtes Endziel der organiſchen Schöpfung und als ein prin-
cipiell von dieſer verſchiedenes, gottähnliches Weſen auffaßt. Bei
genauerer Kritik dieſes einflußreichen Vorſtellungs-Kreiſes ergiebt
ſich, daß derſelbe eigentlich aus drei verſchiedenen Dogmen beſteht,
die wir als den anthropocentriſchen, anthropomor-
phiſchen und anthropolatriſchen Irrthum unterſcheiden“ *).
I. Das anthropocentriſche Dogma gipfelt in der Vor-
ſtellung, daß der Menſch der vorbedachte Mittelpunkt und End-
zweck alles Erdenlebens — oder in weiterer Faſſung der ganzen
Welt — ſei. Da dieſer Irrthum dem menſchlichen Eigennutz
äußerſt erwünſcht, und da er mit den Schöpfungs-Mythen der
drei großen Mediterran-Religionen, mit den Dogmen der
moſaiſchen, chriſtlichen und mohammedaniſchen Lehre
innig verwachſen iſt, beherrſcht er auch heute noch den größten
Theil der Kulturwelt. — II. Das anthropomorphiſche
Dogma knüpft ebenfalls an die Schöpfungs-Mythen der drei
genannten, ſowie vieler anderer Religionen an. Es vergleicht
die Weltſchöpfung und Weltregierung Gottes mit den Kunſt-
ſchöpfungen eines ſinnreichen Technikers oder „Maſchinen-In-
genieurs“ und mit der Staatsregierung eines weiſen Herrſchers.
„Gott der Herr“ als Schöpfer, Erhalter und Regierer der Welt
wird dabei in ſeinem Denken und Handeln durchaus menſchen-
ähnlich vorgeſtellt. Daraus folgt dann wieder umgekehrt, daß
der Menſch gottähnlich iſt. „Gott ſchuf den Menſchen nach
ſeinem Bilde.“ Die ältere naive Mythologie iſt reiner Homo-
theismus und verleiht ihren Göttern Menſchengeſtalt, Fleiſch
und Blut. Weniger vorſtellbar iſt die neuere myſtiſche Theoſophie,
welche den perſönlichen Gott als „unſichtbares“ — eigentlich
gasförmiges! — Weſen verehrt und ihn doch gleichzeitig nach
*) E. Haeckel, Syſtematiſche Phylogenie. 1895. Bd. III, S. 646
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„Göttliche Verehrung des menſchlichen Weſens“.)
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Zitationshilfe: | Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/30>, abgerufen am 16.07.2024. |