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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.

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Alternirendes oder doppeltes Bewußtsein. X.
Aether und Chloroform betäuben dasselbe u. s. w. Wie wäre
das Alles möglich, wenn das Bewußtsein ein immaterielles Wesen,
unabhängig von jenen anatomisch nachgewiesenen Organen wäre?
Und worin besteht das Bewußtsein der "unsterblichen Seele",
wenn sie nicht mehr jene Organe besitzt?

Alle diese und andere bekannte Thatsachen beweisen, daß
das Bewußtsein beim Menschen -- und genau ebenso bei den
nächstverwandten Säugethieren -- veränderlich ist, und daß
seine Thätigkeit jederzeit abgeändert werden kann durch innere
Ursachen (Stoffwechsel, Blutkreislauf) und äußere Ursachen (Ver-
letzung des Gehirns, Reizung u. s. w.). Sehr lehrreich sind auch
die merkwürdigen Zustände des alternirenden oder doppelten
Bewußtseins,
welche an einen "Generationswechsel der Vor-
stellungen" erinnern; derselbe Mensch zeigt an verschiedenen
Tagen, unter veränderten Umständen ein ganz verschiedenes
Bewußtsein; er weiß heute nicht mehr, was er gestern gethan
hat; gestern konnte er sagen: Ich bin Ich; -- heute muß er
sagen: Ich bin ein Anderer. Solche Intermissionen des Be-
wußtseins können nicht bloß Tage, sondern Monate und Jahre
dauern; sie können selbst bleibend werden *).

Ontogenie des Bewußtseins. Wie Jedermann weiß, ist
das neugeborene Kind noch ganz ohne Bewußtsein, und wie
Preyer gezeigt hat, entwickelt sich dasselbe erst spät, nachdem
das kleine Kind zu sprechen angefangen hat; es spricht von sich
lange Zeit in der dritten Person. Erst in dem bedeutungsvollen
Momente, in welchem es zum ersten Male "Ich" sagt, in welchem
das "Ichgefühl" klar wird, beginnt sein Selbstbewußtsein zu
keimen und damit auch der Gegensatz zur Außenwelt. Die
schnellen und tiefgreifenden Fortschritte der Erkenntniß, welche

*) Ludwig Büchner, Kraft und Stoff, Fünfzehnte Auflage 1883,
S. 334 und folgende; Physiologische Bilder, Zweiter Band, S. 179 und
folgende.

Alternirendes oder doppeltes Bewußtſein. X.
Aether und Chloroform betäuben dasſelbe u. ſ. w. Wie wäre
das Alles möglich, wenn das Bewußtſein ein immaterielles Weſen,
unabhängig von jenen anatomiſch nachgewieſenen Organen wäre?
Und worin beſteht das Bewußtſein der „unſterblichen Seele“,
wenn ſie nicht mehr jene Organe beſitzt?

Alle dieſe und andere bekannte Thatſachen beweiſen, daß
das Bewußtſein beim Menſchen — und genau ebenſo bei den
nächſtverwandten Säugethieren — veränderlich iſt, und daß
ſeine Thätigkeit jederzeit abgeändert werden kann durch innere
Urſachen (Stoffwechſel, Blutkreislauf) und äußere Urſachen (Ver-
letzung des Gehirns, Reizung u. ſ. w.). Sehr lehrreich ſind auch
die merkwürdigen Zuſtände des alternirenden oder doppelten
Bewußtſeins,
welche an einen „Generationswechſel der Vor-
ſtellungen“ erinnern; derſelbe Menſch zeigt an verſchiedenen
Tagen, unter veränderten Umſtänden ein ganz verſchiedenes
Bewußtſein; er weiß heute nicht mehr, was er geſtern gethan
hat; geſtern konnte er ſagen: Ich bin Ich; — heute muß er
ſagen: Ich bin ein Anderer. Solche Intermiſſionen des Be-
wußtſeins können nicht bloß Tage, ſondern Monate und Jahre
dauern; ſie können ſelbſt bleibend werden *).

Ontogenie des Bewußtſeins. Wie Jedermann weiß, iſt
das neugeborene Kind noch ganz ohne Bewußtſein, und wie
Preyer gezeigt hat, entwickelt ſich dasſelbe erſt ſpät, nachdem
das kleine Kind zu ſprechen angefangen hat; es ſpricht von ſich
lange Zeit in der dritten Perſon. Erſt in dem bedeutungsvollen
Momente, in welchem es zum erſten Male „Ich“ ſagt, in welchem
das „Ichgefühl“ klar wird, beginnt ſein Selbſtbewußtſein zu
keimen und damit auch der Gegenſatz zur Außenwelt. Die
ſchnellen und tiefgreifenden Fortſchritte der Erkenntniß, welche

*) Ludwig Büchner, Kraft und Stoff, Fünfzehnte Auflage 1883,
S. 334 und folgende; Phyſiologiſche Bilder, Zweiter Band, S. 179 und
folgende.
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[214/0230] Alternirendes oder doppeltes Bewußtſein. X. Aether und Chloroform betäuben dasſelbe u. ſ. w. Wie wäre das Alles möglich, wenn das Bewußtſein ein immaterielles Weſen, unabhängig von jenen anatomiſch nachgewieſenen Organen wäre? Und worin beſteht das Bewußtſein der „unſterblichen Seele“, wenn ſie nicht mehr jene Organe beſitzt? Alle dieſe und andere bekannte Thatſachen beweiſen, daß das Bewußtſein beim Menſchen — und genau ebenſo bei den nächſtverwandten Säugethieren — veränderlich iſt, und daß ſeine Thätigkeit jederzeit abgeändert werden kann durch innere Urſachen (Stoffwechſel, Blutkreislauf) und äußere Urſachen (Ver- letzung des Gehirns, Reizung u. ſ. w.). Sehr lehrreich ſind auch die merkwürdigen Zuſtände des alternirenden oder doppelten Bewußtſeins, welche an einen „Generationswechſel der Vor- ſtellungen“ erinnern; derſelbe Menſch zeigt an verſchiedenen Tagen, unter veränderten Umſtänden ein ganz verſchiedenes Bewußtſein; er weiß heute nicht mehr, was er geſtern gethan hat; geſtern konnte er ſagen: Ich bin Ich; — heute muß er ſagen: Ich bin ein Anderer. Solche Intermiſſionen des Be- wußtſeins können nicht bloß Tage, ſondern Monate und Jahre dauern; ſie können ſelbſt bleibend werden *). Ontogenie des Bewußtſeins. Wie Jedermann weiß, iſt das neugeborene Kind noch ganz ohne Bewußtſein, und wie Preyer gezeigt hat, entwickelt ſich dasſelbe erſt ſpät, nachdem das kleine Kind zu ſprechen angefangen hat; es ſpricht von ſich lange Zeit in der dritten Perſon. Erſt in dem bedeutungsvollen Momente, in welchem es zum erſten Male „Ich“ ſagt, in welchem das „Ichgefühl“ klar wird, beginnt ſein Selbſtbewußtſein zu keimen und damit auch der Gegenſatz zur Außenwelt. Die ſchnellen und tiefgreifenden Fortſchritte der Erkenntniß, welche *) Ludwig Büchner, Kraft und Stoff, Fünfzehnte Auflage 1883, S. 334 und folgende; Phyſiologiſche Bilder, Zweiter Band, S. 179 und folgende.

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/230>, abgerufen am 23.11.2024.