psychischen Funktionen höchst bedenklich erscheint; man glaubte daher dieses Hinderniß am leichtesten dadurch zu überwinden, daß man sie als eine Elementar-Eigenschaft aller Materie an- nahm, gleich der Massen-Anziehung oder der chemischen Wahl- verwandtschaft. Es würde danach so viele Formen des Elementar- Bewußtseins geben, als es chemische Elemente giebt; jedes Atom Wasserstoff würde sein hydrogenes Bewußtsein haben, jedes Atom Kohlenstoff sein karbonisches Bewußtsein u. s. w. Auch den alten vier Elementen des Empedokles, deren Mischung durch "Lieben und Hassen" das Werden der Dinge bewirkt, schrieben manche Philosophen Bewußtsein zu.
Ich selbst habe diese Hypothese des Atom-Bewußtseins niemals vertreten; ich bin gezwungen, dies hier besonders hervorzuheben, weil E. du Bois-Reymond mir diese Ansicht fälschlich untergeschoben hat. In der scharfen Polemik, welche derselbe (1880) in seiner Rede über "die sieben Welträthsel" gegen mich führt, bekämpft er meine "verderbliche falsche Natur- Philosophie" auf das Heftigste und behauptet, ich hätte in meinem Aufsatz über die Perigenesis der Plastidule die "Annahme, daß die Atome einzeln Bewußtsein haben, als metaphysisches Axiom hingestellt". Ich habe vielmehr ausdrücklich betont, daß ich mir die elementaren psychischen Thätigkeiten der Empfindung und des Willens, die man den Atomen zuschreiben kann, un- bewußt vorstelle, ebenso unbewußt wie das elementare Ge- dächtniß, welches ich nach dem Vorgange des ausgezeichneten Physiologen Ewald Hering (1870) als "eine allgemeine Funktion der organisirten Materie" (besser der "lebendigen Sub- stanz") betrachte. Du Bois-Reymond verwechselt demnach hier in auffälliger Weise "Seele" und "Bewußtsein"; ich will dahin gestellt sein lassen, ob er diese Konfusion nur aus Versehen begeht. Da er selbst das Bewußtsein für eine transscendente Er-
Atomiſtiſche Theorie des Bewußtſeins. X.
pſychiſchen Funktionen höchſt bedenklich erſcheint; man glaubte daher dieſes Hinderniß am leichteſten dadurch zu überwinden, daß man ſie als eine Elementar-Eigenſchaft aller Materie an- nahm, gleich der Maſſen-Anziehung oder der chemiſchen Wahl- verwandtſchaft. Es würde danach ſo viele Formen des Elementar- Bewußtſeins geben, als es chemiſche Elemente giebt; jedes Atom Waſſerſtoff würde ſein hydrogenes Bewußtſein haben, jedes Atom Kohlenſtoff ſein karboniſches Bewußtſein u. ſ. w. Auch den alten vier Elementen des Empedokles, deren Miſchung durch „Lieben und Haſſen“ das Werden der Dinge bewirkt, ſchrieben manche Philoſophen Bewußtſein zu.
Ich ſelbſt habe dieſe Hypotheſe des Atom-Bewußtſeins niemals vertreten; ich bin gezwungen, dies hier beſonders hervorzuheben, weil E. du Bois-Reymond mir dieſe Anſicht fälſchlich untergeſchoben hat. In der ſcharfen Polemik, welche derſelbe (1880) in ſeiner Rede über „die ſieben Welträthſel“ gegen mich führt, bekämpft er meine „verderbliche falſche Natur- Philoſophie“ auf das Heftigſte und behauptet, ich hätte in meinem Aufſatz über die Perigeneſis der Plaſtidule die „Annahme, daß die Atome einzeln Bewußtſein haben, als metaphyſiſches Axiom hingeſtellt“. Ich habe vielmehr ausdrücklich betont, daß ich mir die elementaren pſychiſchen Thätigkeiten der Empfindung und des Willens, die man den Atomen zuſchreiben kann, un- bewußt vorſtelle, ebenſo unbewußt wie das elementare Ge- dächtniß, welches ich nach dem Vorgange des ausgezeichneten Phyſiologen Ewald Hering (1870) als „eine allgemeine Funktion der organiſirten Materie“ (beſſer der „lebendigen Sub- ſtanz“) betrachte. Du Bois-Reymond verwechſelt demnach hier in auffälliger Weiſe „Seele“ und „Bewußtſein“; ich will dahin geſtellt ſein laſſen, ob er dieſe Konfuſion nur aus Verſehen begeht. Da er ſelbſt das Bewußtſein für eine transſcendente Er-
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Atomiſtiſche Theorie des Bewußtſeins. X.
pſychiſchen Funktionen höchſt bedenklich erſcheint; man glaubte
daher dieſes Hinderniß am leichteſten dadurch zu überwinden,
daß man ſie als eine Elementar-Eigenſchaft aller Materie an-
nahm, gleich der Maſſen-Anziehung oder der chemiſchen Wahl-
verwandtſchaft. Es würde danach ſo viele Formen des Elementar-
Bewußtſeins geben, als es chemiſche Elemente giebt; jedes Atom
Waſſerſtoff würde ſein hydrogenes Bewußtſein haben, jedes Atom
Kohlenſtoff ſein karboniſches Bewußtſein u. ſ. w. Auch den
alten vier Elementen des Empedokles, deren Miſchung durch
„Lieben und Haſſen“ das Werden der Dinge bewirkt, ſchrieben
manche Philoſophen Bewußtſein zu.
Ich ſelbſt habe dieſe Hypotheſe des Atom-Bewußtſeins
niemals vertreten; ich bin gezwungen, dies hier beſonders
hervorzuheben, weil E. du Bois-Reymond mir dieſe Anſicht
fälſchlich untergeſchoben hat. In der ſcharfen Polemik, welche
derſelbe (1880) in ſeiner Rede über „die ſieben Welträthſel“
gegen mich führt, bekämpft er meine „verderbliche falſche Natur-
Philoſophie“ auf das Heftigſte und behauptet, ich hätte in
meinem Aufſatz über die Perigeneſis der Plaſtidule die „Annahme,
daß die Atome einzeln Bewußtſein haben, als metaphyſiſches
Axiom hingeſtellt“. Ich habe vielmehr ausdrücklich betont, daß
ich mir die elementaren pſychiſchen Thätigkeiten der Empfindung
und des Willens, die man den Atomen zuſchreiben kann, un-
bewußt vorſtelle, ebenſo unbewußt wie das elementare Ge-
dächtniß, welches ich nach dem Vorgange des ausgezeichneten
Phyſiologen Ewald Hering (1870) als „eine allgemeine
Funktion der organiſirten Materie“ (beſſer der „lebendigen Sub-
ſtanz“) betrachte. Du Bois-Reymond verwechſelt demnach
hier in auffälliger Weiſe „Seele“ und „Bewußtſein“; ich will dahin
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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/222>, abgerufen am 16.02.2025.
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