Die Spongien oder Schwammthiere stellen einen selbst- ständigen Stamm des Thierreichs dar, der sich von allen anderen Metazoen durch seine eigenthümliche Organisation unterscheidet; die sehr zahlreichen Arten desselben sitzen meistens auf dem Meeresboden angewachsen. Die einfachste Form der Schwämme, Olynthus, ist eigentlich nichts weiter als eine Gastraea, deren Körperwand siebförmig von feinen Poren durchbrochen ist, zum Eintritt des ernährenden Wasserstromes. Bei den meisten Spongien (auch beim bekanntesten, dem Badeschwamm) bildet der knollen- förmige Körper einen Stock oder Kormus, welcher aus Tausenden solcher Gasträaden ("Geißelkammern") zusammengesetzt und von einem ernährenden Kanal-System durchzogen ist. Empfindung und Bewegung sind bei den Schwammthieren nur in äußerst ge- ringem Grade entwickelt; Nerven, Sinnesorgane und Muskeln fehlen. Es war daher sehr natürlich, daß man diese festsitzenden, unförmigen und unempfindlichen Thiere früher allgemein als "Gewächse" betrachtete. Ihr Seelenleben (für welches keine be- sonderen Organe differenzirt sind) steht tief unter demjenigen der Mimosen und anderer empfindlicher Pflanzen.
Die Seele der Nesselthiere (Cnidaria) ist für die ver- gleichende und phylogenetische Psychologie von ganz hervor- ragender Bedeutung. Denn in diesem formenreichen Stamm der Cölenterien vollzieht sich vor unseren Augen die historische Ent- stehung der Nervenseele aus der Gewebeseele. Es ge- hören zu diesem Stamme die vielgestaltigen Klassen der fest- sitzenden Polypen und Korallen, der schwimmenden Medusen und Siphonophoren. Als gemeinsame hypothetische Stammform aller Nesselthiere läßt sich mit voller Sicherheit ein einfachster Polyp erkennen, welcher dem gemeinen, heute noch lebenden Süßwasser- Polypen (Hydra) im Wesentlichen gleich gebaut war. Nun besitzen aber diese Hydra und ebenso die festsitzenden, nahe ver- wandten Hydropolypen noch keine Nerven und höheren
Gewebe-Seele der Schwammthiere. IX.
Die Spongien oder Schwammthiere ſtellen einen ſelbſt- ſtändigen Stamm des Thierreichs dar, der ſich von allen anderen Metazoen durch ſeine eigenthümliche Organiſation unterſcheidet; die ſehr zahlreichen Arten desſelben ſitzen meiſtens auf dem Meeresboden angewachſen. Die einfachſte Form der Schwämme, Olynthuſ, iſt eigentlich nichts weiter als eine Gaſtraea, deren Körperwand ſiebförmig von feinen Poren durchbrochen iſt, zum Eintritt des ernährenden Waſſerſtromes. Bei den meiſten Spongien (auch beim bekannteſten, dem Badeſchwamm) bildet der knollen- förmige Körper einen Stock oder Kormus, welcher aus Tauſenden ſolcher Gaſträaden („Geißelkammern“) zuſammengeſetzt und von einem ernährenden Kanal-Syſtem durchzogen iſt. Empfindung und Bewegung ſind bei den Schwammthieren nur in äußerſt ge- ringem Grade entwickelt; Nerven, Sinnesorgane und Muskeln fehlen. Es war daher ſehr natürlich, daß man dieſe feſtſitzenden, unförmigen und unempfindlichen Thiere früher allgemein als „Gewächſe“ betrachtete. Ihr Seelenleben (für welches keine be- ſonderen Organe differenzirt ſind) ſteht tief unter demjenigen der Mimoſen und anderer empfindlicher Pflanzen.
Die Seele der Neſſelthiere (Cnidaria) iſt für die ver- gleichende und phylogenetiſche Pſychologie von ganz hervor- ragender Bedeutung. Denn in dieſem formenreichen Stamm der Cölenterien vollzieht ſich vor unſeren Augen die hiſtoriſche Ent- ſtehung der Nervenſeele aus der Gewebeſeele. Es ge- hören zu dieſem Stamme die vielgeſtaltigen Klaſſen der feſt- ſitzenden Polypen und Korallen, der ſchwimmenden Meduſen und Siphonophoren. Als gemeinſame hypothetiſche Stammform aller Neſſelthiere läßt ſich mit voller Sicherheit ein einfachſter Polyp erkennen, welcher dem gemeinen, heute noch lebenden Süßwaſſer- Polypen (Hydra) im Weſentlichen gleich gebaut war. Nun beſitzen aber dieſe Hydra und ebenſo die feſtſitzenden, nahe ver- wandten Hydropolypen noch keine Nerven und höheren
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0202"n="186"/><fwplace="top"type="header">Gewebe-Seele der Schwammthiere. <hirendition="#aq">IX.</hi></fw><lb/><p><hirendition="#b">Die Spongien oder Schwammthiere</hi>ſtellen einen ſelbſt-<lb/>ſtändigen Stamm des Thierreichs dar, der ſich von allen anderen<lb/>
Metazoen durch ſeine eigenthümliche Organiſation unterſcheidet;<lb/>
die ſehr zahlreichen Arten desſelben ſitzen meiſtens auf dem<lb/>
Meeresboden angewachſen. Die einfachſte Form der Schwämme,<lb/><hirendition="#aq">Olynthuſ</hi>, iſt eigentlich nichts weiter als eine <hirendition="#aq">Gaſtraea</hi>, deren<lb/>
Körperwand ſiebförmig von feinen Poren durchbrochen iſt, zum<lb/>
Eintritt des ernährenden Waſſerſtromes. Bei den meiſten Spongien<lb/>
(auch beim bekannteſten, dem Badeſchwamm) bildet der knollen-<lb/>
förmige Körper einen Stock oder Kormus, welcher aus Tauſenden<lb/>ſolcher Gaſträaden („Geißelkammern“) zuſammengeſetzt und von<lb/>
einem ernährenden Kanal-Syſtem durchzogen iſt. Empfindung<lb/>
und Bewegung ſind bei den Schwammthieren nur in äußerſt ge-<lb/>
ringem Grade entwickelt; Nerven, Sinnesorgane und Muskeln<lb/>
fehlen. Es war daher ſehr natürlich, daß man dieſe feſtſitzenden,<lb/>
unförmigen und unempfindlichen Thiere früher allgemein als<lb/>„Gewächſe“ betrachtete. Ihr Seelenleben (für welches keine be-<lb/>ſonderen Organe differenzirt ſind) ſteht tief unter demjenigen der<lb/>
Mimoſen und anderer empfindlicher Pflanzen.</p><lb/><p><hirendition="#b">Die Seele der Neſſelthiere <hirendition="#aq">(Cnidaria)</hi></hi> iſt für die ver-<lb/>
gleichende und phylogenetiſche Pſychologie von ganz hervor-<lb/>
ragender Bedeutung. Denn in dieſem formenreichen Stamm der<lb/>
Cölenterien vollzieht ſich vor unſeren Augen die hiſtoriſche Ent-<lb/>ſtehung der <hirendition="#g">Nervenſeele</hi> aus der <hirendition="#g">Gewebeſeele</hi>. Es ge-<lb/>
hören zu dieſem Stamme die vielgeſtaltigen Klaſſen der feſt-<lb/>ſitzenden Polypen und Korallen, der ſchwimmenden Meduſen und<lb/>
Siphonophoren. Als gemeinſame hypothetiſche Stammform aller<lb/>
Neſſelthiere läßt ſich mit voller Sicherheit ein einfachſter <hirendition="#g">Polyp</hi><lb/>
erkennen, welcher dem gemeinen, heute noch lebenden Süßwaſſer-<lb/>
Polypen <hirendition="#aq">(Hydra)</hi> im Weſentlichen gleich gebaut war. Nun<lb/>
beſitzen aber dieſe Hydra und ebenſo die feſtſitzenden, nahe ver-<lb/>
wandten <hirendition="#g">Hydropolypen</hi> noch keine Nerven und höheren<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[186/0202]
Gewebe-Seele der Schwammthiere. IX.
Die Spongien oder Schwammthiere ſtellen einen ſelbſt-
ſtändigen Stamm des Thierreichs dar, der ſich von allen anderen
Metazoen durch ſeine eigenthümliche Organiſation unterſcheidet;
die ſehr zahlreichen Arten desſelben ſitzen meiſtens auf dem
Meeresboden angewachſen. Die einfachſte Form der Schwämme,
Olynthuſ, iſt eigentlich nichts weiter als eine Gaſtraea, deren
Körperwand ſiebförmig von feinen Poren durchbrochen iſt, zum
Eintritt des ernährenden Waſſerſtromes. Bei den meiſten Spongien
(auch beim bekannteſten, dem Badeſchwamm) bildet der knollen-
förmige Körper einen Stock oder Kormus, welcher aus Tauſenden
ſolcher Gaſträaden („Geißelkammern“) zuſammengeſetzt und von
einem ernährenden Kanal-Syſtem durchzogen iſt. Empfindung
und Bewegung ſind bei den Schwammthieren nur in äußerſt ge-
ringem Grade entwickelt; Nerven, Sinnesorgane und Muskeln
fehlen. Es war daher ſehr natürlich, daß man dieſe feſtſitzenden,
unförmigen und unempfindlichen Thiere früher allgemein als
„Gewächſe“ betrachtete. Ihr Seelenleben (für welches keine be-
ſonderen Organe differenzirt ſind) ſteht tief unter demjenigen der
Mimoſen und anderer empfindlicher Pflanzen.
Die Seele der Neſſelthiere (Cnidaria) iſt für die ver-
gleichende und phylogenetiſche Pſychologie von ganz hervor-
ragender Bedeutung. Denn in dieſem formenreichen Stamm der
Cölenterien vollzieht ſich vor unſeren Augen die hiſtoriſche Ent-
ſtehung der Nervenſeele aus der Gewebeſeele. Es ge-
hören zu dieſem Stamme die vielgeſtaltigen Klaſſen der feſt-
ſitzenden Polypen und Korallen, der ſchwimmenden Meduſen und
Siphonophoren. Als gemeinſame hypothetiſche Stammform aller
Neſſelthiere läßt ſich mit voller Sicherheit ein einfachſter Polyp
erkennen, welcher dem gemeinen, heute noch lebenden Süßwaſſer-
Polypen (Hydra) im Weſentlichen gleich gebaut war. Nun
beſitzen aber dieſe Hydra und ebenſo die feſtſitzenden, nahe ver-
wandten Hydropolypen noch keine Nerven und höheren
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/202>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.