Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899.Problem der Willensfreiheit. VII. der Geistes- und Kulturgeschichte eine Rolle von unermeßlicherWichtigkeit gespielt, und in ihrer Behandlung spiegeln sich die Entwickelungsstadien des Menschengeistes deutlich ab. -- Vielleicht giebt es keinen Gegenstand menschlichen Nachdenkens, über welchen längere Reihen nie mehr aufgeschlagener Folianten im Staube der Bibliotheken modern." -- Diese Wichtigkeit der Frage tritt auch darin klar zu Tage, daß Kant die Ueber- zeugung von der "Willensfreiheit" unmittelbar neben diejenige von der "Unsterblichkeit der Seele" und neben den "Glauben an Gott" stellte. Er bezeichnete diese drei großen Fragen als die drei unentbehrlichen "Postulate der praktischen Ver- nunft", nachdem er früher klar dargelegt hatte, daß die Realität derselben im Lichte der reinen Vernunft nicht zu beweisen ist! Das Merkwürdigste in dem großartigen und höchst ver- Problem der Willensfreiheit. VII. der Geiſtes- und Kulturgeſchichte eine Rolle von unermeßlicherWichtigkeit geſpielt, und in ihrer Behandlung ſpiegeln ſich die Entwickelungsſtadien des Menſchengeiſtes deutlich ab. — Vielleicht giebt es keinen Gegenſtand menſchlichen Nachdenkens, über welchen längere Reihen nie mehr aufgeſchlagener Folianten im Staube der Bibliotheken modern.“ — Dieſe Wichtigkeit der Frage tritt auch darin klar zu Tage, daß Kant die Ueber- zeugung von der „Willensfreiheit“ unmittelbar neben diejenige von der „Unſterblichkeit der Seele“ und neben den „Glauben an Gott“ ſtellte. Er bezeichnete dieſe drei großen Fragen als die drei unentbehrlichen „Poſtulate der praktiſchen Ver- nunft“, nachdem er früher klar dargelegt hatte, daß die Realität derſelben im Lichte der reinen Vernunft nicht zu beweiſen iſt! Das Merkwürdigſte in dem großartigen und höchſt ver- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0166" n="150"/><fw place="top" type="header">Problem der Willensfreiheit. <hi rendition="#aq">VII.</hi></fw><lb/> der Geiſtes- und Kulturgeſchichte eine Rolle von unermeßlicher<lb/> Wichtigkeit geſpielt, und in ihrer Behandlung ſpiegeln ſich die<lb/> Entwickelungsſtadien des Menſchengeiſtes deutlich ab. — Vielleicht<lb/> giebt es keinen Gegenſtand menſchlichen Nachdenkens, über<lb/> welchen längere Reihen nie mehr aufgeſchlagener Folianten im<lb/> Staube der Bibliotheken modern.“ — Dieſe Wichtigkeit der<lb/> Frage tritt auch darin klar zu Tage, daß <hi rendition="#g">Kant</hi> die Ueber-<lb/> zeugung von der „Willensfreiheit“ unmittelbar neben diejenige<lb/> von der „Unſterblichkeit der Seele“ und neben den „Glauben<lb/> an Gott“ ſtellte. Er bezeichnete dieſe drei großen Fragen als<lb/> die drei unentbehrlichen „<hi rendition="#g">Poſtulate der praktiſchen Ver-<lb/> nunft</hi>“, nachdem er früher klar dargelegt hatte, daß die<lb/> Realität derſelben im Lichte der <hi rendition="#g">reinen</hi> Vernunft nicht zu<lb/> beweiſen iſt!</p><lb/> <p>Das Merkwürdigſte in dem großartigen und höchſt ver-<lb/> worrenen Streite über die Willensfreiheit iſt vielleicht die That-<lb/> ſache, daß dieſelbe theoretiſch nicht nur von höchſt kritiſchen<lb/> Philoſophen, ſondern auch von den extremſten Gegenſätzen ver-<lb/> neint und trotzdem von den meiſten Menſchen als ſelbſtverſtändlich<lb/> noch heute bejaht wird. Hervorragende Lehrer der chriſtlichen<lb/> Kirche, wie der Kirchenvater <hi rendition="#g">Auguſtin</hi> und der Reformator<lb/><hi rendition="#g">Calvin</hi>, leugnen die Willensfreiheit ebenſo beſtimmt wie die<lb/> bekannteſten Führer des reinen Materialismus, wie <hi rendition="#g">Holbach</hi><lb/> im achtzehnten und <hi rendition="#g">Büchner</hi> im neunzehnten Jahrhundert. Die<lb/> chriſtlichen Theologen verneinen ſie, weil ſie mit ihrem feſten<lb/> Glauben an die Allmacht Gottes und die Prädeſtination un-<lb/> vereinbar iſt; Gott, der Allmächtige und Allwiſſende, ſah und<lb/> wollte Alles von Ewigkeit voraus; alſo beſtimmte er auch das<lb/> Handeln der Menſchen. Wenn der Menſch nach freiem Willen<lb/> handelte, anders, als es Gott vorausbeſtimmt hatte, ſo wäre<lb/> Gott nicht allmächtig und allwiſſend geweſen. In demſelben<lb/> Sinne war auch <hi rendition="#g">Leibniz</hi> unbedingter <hi rendition="#g">Determiniſt</hi>. Die<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [150/0166]
Problem der Willensfreiheit. VII.
der Geiſtes- und Kulturgeſchichte eine Rolle von unermeßlicher
Wichtigkeit geſpielt, und in ihrer Behandlung ſpiegeln ſich die
Entwickelungsſtadien des Menſchengeiſtes deutlich ab. — Vielleicht
giebt es keinen Gegenſtand menſchlichen Nachdenkens, über
welchen längere Reihen nie mehr aufgeſchlagener Folianten im
Staube der Bibliotheken modern.“ — Dieſe Wichtigkeit der
Frage tritt auch darin klar zu Tage, daß Kant die Ueber-
zeugung von der „Willensfreiheit“ unmittelbar neben diejenige
von der „Unſterblichkeit der Seele“ und neben den „Glauben
an Gott“ ſtellte. Er bezeichnete dieſe drei großen Fragen als
die drei unentbehrlichen „Poſtulate der praktiſchen Ver-
nunft“, nachdem er früher klar dargelegt hatte, daß die
Realität derſelben im Lichte der reinen Vernunft nicht zu
beweiſen iſt!
Das Merkwürdigſte in dem großartigen und höchſt ver-
worrenen Streite über die Willensfreiheit iſt vielleicht die That-
ſache, daß dieſelbe theoretiſch nicht nur von höchſt kritiſchen
Philoſophen, ſondern auch von den extremſten Gegenſätzen ver-
neint und trotzdem von den meiſten Menſchen als ſelbſtverſtändlich
noch heute bejaht wird. Hervorragende Lehrer der chriſtlichen
Kirche, wie der Kirchenvater Auguſtin und der Reformator
Calvin, leugnen die Willensfreiheit ebenſo beſtimmt wie die
bekannteſten Führer des reinen Materialismus, wie Holbach
im achtzehnten und Büchner im neunzehnten Jahrhundert. Die
chriſtlichen Theologen verneinen ſie, weil ſie mit ihrem feſten
Glauben an die Allmacht Gottes und die Prädeſtination un-
vereinbar iſt; Gott, der Allmächtige und Allwiſſende, ſah und
wollte Alles von Ewigkeit voraus; alſo beſtimmte er auch das
Handeln der Menſchen. Wenn der Menſch nach freiem Willen
handelte, anders, als es Gott vorausbeſtimmt hatte, ſo wäre
Gott nicht allmächtig und allwiſſend geweſen. In demſelben
Sinne war auch Leibniz unbedingter Determiniſt. Die
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