Kohlenstoff-Verbindungen, welche sämmtlichen Lebensvorgängen zu Grunde liegen. Bei den höheren Thieren, welche ein Nerven- System und Sinnes-Organe besitzen, ist aus dem Psychoplasma durch Differenzirung das Neuroplasma, die Nervensubstanz, entstanden. Unsere Auffassung ist in diesem Sinne mate- rialistisch. Sie ist aber zugleich empirisch und natura- listisch; denn unsere wissenschaftliche Erfahrung hat uns noch keine Kräfte kennen gelehrt, welche der materiellen Grundlage entbehren, und keine "geistige Welt", welche außer der Natur und über der Natur stünde.
Gleich allen anderen Natur-Erscheinungen sind auch die- jenigen des Seelenlebens dem obersten, Alles beherrschenden Substanzgesetze unterworfen; es giebt auch in diesem Ge- biete keine einzige Ausnahme von diesem höchsten kosmologischen Grundgesetze (vergl. Kap. 12). Die Vorgänge des niederen Seelen- lebens bei den einzelligen Protisten und bei den Pflanzen -- aber ebenso auch bei den niederen Thieren --, ihre Reizbarkeit, ihre Reflex-Bewegungen, ihre Empfindlichkeit und ihr Streben nach Selbsterhaltung, sind unmittelbar bedingt durch physiologische Vorgänge in dem Plasma ihrer Zellen, durch physikalische und chemische Veränderungen, welche theils auf Vererbung, theils auf Anpassung zurückzuführen sind. Aber ganz dasselbe müssen wir auch für die höheren Seelenthätigkeiten der höheren Thiere und des Menschen behaupten, für die Bildung der Vorstellungen und Begriffe, für die wunderbaren Phänomene der Vernunft und des Bewußtseins; denn diese letzteren haben sich phylogenetisch aus jenen ersteren entwickelt, und nur der höhere Grad der Integration oder Centralisation, der Association oder Vereinigung der früher getrennten Funktionen erhebt sie zu dieser Höhe.
Begriffe der Psychologie. In jeder Wissenschaft gilt mit Recht als erste Aufgabe die klare Begriffs-Bestimmung des Gegenstandes, den sie zu erforschen hat. In keiner Wissen-
Pſychologie und Subſtanzgeſetz. VI.
Kohlenſtoff-Verbindungen, welche ſämmtlichen Lebensvorgängen zu Grunde liegen. Bei den höheren Thieren, welche ein Nerven- Syſtem und Sinnes-Organe beſitzen, iſt aus dem Pſychoplasma durch Differenzirung das Neuroplasma, die Nervenſubſtanz, entſtanden. Unſere Auffaſſung iſt in dieſem Sinne mate- rialiſtiſch. Sie iſt aber zugleich empiriſch und natura- liſtiſch; denn unſere wiſſenſchaftliche Erfahrung hat uns noch keine Kräfte kennen gelehrt, welche der materiellen Grundlage entbehren, und keine „geiſtige Welt“, welche außer der Natur und über der Natur ſtünde.
Gleich allen anderen Natur-Erſcheinungen ſind auch die- jenigen des Seelenlebens dem oberſten, Alles beherrſchenden Subſtanzgeſetze unterworfen; es giebt auch in dieſem Ge- biete keine einzige Ausnahme von dieſem höchſten kosmologiſchen Grundgeſetze (vergl. Kap. 12). Die Vorgänge des niederen Seelen- lebens bei den einzelligen Protiſten und bei den Pflanzen — aber ebenſo auch bei den niederen Thieren —, ihre Reizbarkeit, ihre Reflex-Bewegungen, ihre Empfindlichkeit und ihr Streben nach Selbſterhaltung, ſind unmittelbar bedingt durch phyſiologiſche Vorgänge in dem Plasma ihrer Zellen, durch phyſikaliſche und chemiſche Veränderungen, welche theils auf Vererbung, theils auf Anpaſſung zurückzuführen ſind. Aber ganz daſſelbe müſſen wir auch für die höheren Seelenthätigkeiten der höheren Thiere und des Menſchen behaupten, für die Bildung der Vorſtellungen und Begriffe, für die wunderbaren Phänomene der Vernunft und des Bewußtſeins; denn dieſe letzteren haben ſich phylogenetiſch aus jenen erſteren entwickelt, und nur der höhere Grad der Integration oder Centraliſation, der Aſſociation oder Vereinigung der früher getrennten Funktionen erhebt ſie zu dieſer Höhe.
Begriffe der Pſychologie. In jeder Wiſſenſchaft gilt mit Recht als erſte Aufgabe die klare Begriffs-Beſtimmung des Gegenſtandes, den ſie zu erforſchen hat. In keiner Wiſſen-
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Pſychologie und Subſtanzgeſetz. VI.
Kohlenſtoff-Verbindungen, welche ſämmtlichen Lebensvorgängen
zu Grunde liegen. Bei den höheren Thieren, welche ein Nerven-
Syſtem und Sinnes-Organe beſitzen, iſt aus dem Pſychoplasma
durch Differenzirung das Neuroplasma, die Nervenſubſtanz,
entſtanden. Unſere Auffaſſung iſt in dieſem Sinne mate-
rialiſtiſch. Sie iſt aber zugleich empiriſch und natura-
liſtiſch; denn unſere wiſſenſchaftliche Erfahrung hat uns noch
keine Kräfte kennen gelehrt, welche der materiellen Grundlage
entbehren, und keine „geiſtige Welt“, welche außer der Natur
und über der Natur ſtünde.
Gleich allen anderen Natur-Erſcheinungen ſind auch die-
jenigen des Seelenlebens dem oberſten, Alles beherrſchenden
Subſtanzgeſetze unterworfen; es giebt auch in dieſem Ge-
biete keine einzige Ausnahme von dieſem höchſten kosmologiſchen
Grundgeſetze (vergl. Kap. 12). Die Vorgänge des niederen Seelen-
lebens bei den einzelligen Protiſten und bei den Pflanzen —
aber ebenſo auch bei den niederen Thieren —, ihre Reizbarkeit,
ihre Reflex-Bewegungen, ihre Empfindlichkeit und ihr Streben
nach Selbſterhaltung, ſind unmittelbar bedingt durch phyſiologiſche
Vorgänge in dem Plasma ihrer Zellen, durch phyſikaliſche und
chemiſche Veränderungen, welche theils auf Vererbung, theils
auf Anpaſſung zurückzuführen ſind. Aber ganz daſſelbe müſſen
wir auch für die höheren Seelenthätigkeiten der höheren Thiere
und des Menſchen behaupten, für die Bildung der Vorſtellungen
und Begriffe, für die wunderbaren Phänomene der Vernunft und
des Bewußtſeins; denn dieſe letzteren haben ſich phylogenetiſch
aus jenen erſteren entwickelt, und nur der höhere Grad der
Integration oder Centraliſation, der Aſſociation oder Vereinigung
der früher getrennten Funktionen erhebt ſie zu dieſer Höhe.
Begriffe der Pſychologie. In jeder Wiſſenſchaft gilt mit
Recht als erſte Aufgabe die klare Begriffs-Beſtimmung
des Gegenſtandes, den ſie zu erforſchen hat. In keiner Wiſſen-
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Haeckel, Ernst: Die Welträthsel. Bonn, 1899, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_weltraethsel_1899/122>, abgerufen am 16.02.2025.
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