Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Specifikation (Vererbung) und die Metamorphose (Anpassung).
cher Goethe ganz klar das "Gegengewicht" dieser beiden äußerst wich-
tigen organischen Bildungstriebe bezeichnet, lautet folgendermaßen:
"Die Jdee der Metamorphose ist gleich der Vis centrifuga und
würde sich ins Unendliche verlieren, wäre ihr nicht ein Gegengewicht
zugegeben: ich meine den Specifikationstrieb, das zähe Beharr-
lichkeitsvermögen dessen, was einmal zur Wirklichkeit gekommen, eine
Vis centripeta, welcher in ihrem tiefsten Grunde keine Aeußerlichkeit
etwas anhaben kann".

Unter Metamorphose versteht Goethe nicht allein, wie es
heutzutage gewöhnlich verstanden wird, die Formveränderungen, welche
das organische Jndividuum während seiner individuellen Entwickelung
erleidet, sondern in weiterem Sinne überhaupt die Umbildung der
organischen Formen.
Die "Jdee der Metamorphose" ist bei-
nahe gleichbedeutend mit unserer "Entwickelungstheorie". Dies zeigt
sich unter Anderm auch in folgendem Ausspruch: "Der Triumph der
physiologischen Metamorphose zeigt sich da, wo das Ganze sich in Fa-
milien, Familien sich in Geschlechter, Geschlechter in Sippen, und diese
wieder in andere Mannichfaltigkeiten bis zur Jndividualität scheiden,
sondern und umbilden. Ganz ins Unendliche geht dieses Geschäft der
Natur; sie kann nicht ruhen, noch beharren, aber auch nicht Alles,
was sie hervorbrachte, bewahren und erhalten. Aus den Samen ent-
wickeln sich immer abweichende, die Verhältnisse ihrer Theile zu ein-
ander verändert bestimmende Pflanzen".

Jn den beiden organischen Bildungstrieben, in dem konserva-
tiven, centripetalen, innerlichen Bildungstriebe der Vererbung oder
der Specifikation einerseits, in dem progressiven, centrifugalen, äußer-
lichen Bildungstriebe der Anpassung oder der Metamorphose andrer-
seits, hatte Goethe bereits die beiden großen mechanischen Naturkräfte
entdeckt, welche die wirkenden Ursachen der organischen Gestalten sind.
Diese tiefe biologische Erkenntniß mußte ihn naturgemäß zu dem
Grundgedanken der Abstammungslehre führen, zu der Vorstellung,
daß die formverwandten organischen Arten wirklich blutsverwandt
sind, und daß dieselben von gemeinsamen ursprünglichen Stammfor-

Die Specifikation (Vererbung) und die Metamorphoſe (Anpaſſung).
cher Goethe ganz klar das „Gegengewicht“ dieſer beiden aͤußerſt wich-
tigen organiſchen Bildungstriebe bezeichnet, lautet folgendermaßen:
„Die Jdee der Metamorphoſe iſt gleich der Vis centrifuga und
wuͤrde ſich ins Unendliche verlieren, waͤre ihr nicht ein Gegengewicht
zugegeben: ich meine den Specifikationstrieb, das zaͤhe Beharr-
lichkeitsvermoͤgen deſſen, was einmal zur Wirklichkeit gekommen, eine
Vis centripeta, welcher in ihrem tiefſten Grunde keine Aeußerlichkeit
etwas anhaben kann“.

Unter Metamorphoſe verſteht Goethe nicht allein, wie es
heutzutage gewoͤhnlich verſtanden wird, die Formveraͤnderungen, welche
das organiſche Jndividuum waͤhrend ſeiner individuellen Entwickelung
erleidet, ſondern in weiterem Sinne uͤberhaupt die Umbildung der
organiſchen Formen.
Die „Jdee der Metamorphoſe“ iſt bei-
nahe gleichbedeutend mit unſerer „Entwickelungstheorie“. Dies zeigt
ſich unter Anderm auch in folgendem Ausſpruch: „Der Triumph der
phyſiologiſchen Metamorphoſe zeigt ſich da, wo das Ganze ſich in Fa-
milien, Familien ſich in Geſchlechter, Geſchlechter in Sippen, und dieſe
wieder in andere Mannichfaltigkeiten bis zur Jndividualitaͤt ſcheiden,
ſondern und umbilden. Ganz ins Unendliche geht dieſes Geſchaͤft der
Natur; ſie kann nicht ruhen, noch beharren, aber auch nicht Alles,
was ſie hervorbrachte, bewahren und erhalten. Aus den Samen ent-
wickeln ſich immer abweichende, die Verhaͤltniſſe ihrer Theile zu ein-
ander veraͤndert beſtimmende Pflanzen“.

Jn den beiden organiſchen Bildungstrieben, in dem konſerva-
tiven, centripetalen, innerlichen Bildungstriebe der Vererbung oder
der Specifikation einerſeits, in dem progreſſiven, centrifugalen, aͤußer-
lichen Bildungstriebe der Anpaſſung oder der Metamorphoſe andrer-
ſeits, hatte Goethe bereits die beiden großen mechaniſchen Naturkraͤfte
entdeckt, welche die wirkenden Urſachen der organiſchen Geſtalten ſind.
Dieſe tiefe biologiſche Erkenntniß mußte ihn naturgemaͤß zu dem
Grundgedanken der Abſtammungslehre fuͤhren, zu der Vorſtellung,
daß die formverwandten organiſchen Arten wirklich blutsverwandt
ſind, und daß dieſelben von gemeinſamen urſpruͤnglichen Stammfor-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0096" n="75"/><fw place="top" type="header">Die Specifikation (Vererbung) und die Metamorpho&#x017F;e (Anpa&#x017F;&#x017F;ung).</fw><lb/>
cher <hi rendition="#g">Goethe</hi> ganz klar das &#x201E;Gegengewicht&#x201C; die&#x017F;er beiden a&#x0364;ußer&#x017F;t wich-<lb/>
tigen organi&#x017F;chen Bildungstriebe bezeichnet, lautet folgendermaßen:<lb/>
&#x201E;Die Jdee der <hi rendition="#g">Metamorpho&#x017F;e</hi> i&#x017F;t gleich der <hi rendition="#aq">Vis centrifuga</hi> und<lb/>
wu&#x0364;rde &#x017F;ich ins Unendliche verlieren, wa&#x0364;re ihr nicht ein Gegengewicht<lb/>
zugegeben: ich meine den <hi rendition="#g">Specifikationstrieb,</hi> das za&#x0364;he Beharr-<lb/>
lichkeitsvermo&#x0364;gen de&#x017F;&#x017F;en, was einmal zur Wirklichkeit gekommen, eine<lb/><hi rendition="#aq">Vis centripeta,</hi> welcher in ihrem tief&#x017F;ten Grunde keine Aeußerlichkeit<lb/>
etwas anhaben kann&#x201C;.</p><lb/>
        <p>Unter <hi rendition="#g">Metamorpho&#x017F;e</hi> ver&#x017F;teht <hi rendition="#g">Goethe</hi> nicht allein, wie es<lb/>
heutzutage gewo&#x0364;hnlich ver&#x017F;tanden wird, die Formvera&#x0364;nderungen, welche<lb/>
das organi&#x017F;che Jndividuum wa&#x0364;hrend &#x017F;einer individuellen Entwickelung<lb/>
erleidet, &#x017F;ondern in weiterem Sinne u&#x0364;berhaupt die <hi rendition="#g">Umbildung der<lb/>
organi&#x017F;chen Formen.</hi> Die &#x201E;Jdee der Metamorpho&#x017F;e&#x201C; i&#x017F;t bei-<lb/>
nahe gleichbedeutend mit un&#x017F;erer &#x201E;Entwickelungstheorie&#x201C;. Dies zeigt<lb/>
&#x017F;ich unter Anderm auch in folgendem Aus&#x017F;pruch: &#x201E;Der Triumph der<lb/>
phy&#x017F;iologi&#x017F;chen Metamorpho&#x017F;e zeigt &#x017F;ich da, wo das Ganze &#x017F;ich in Fa-<lb/>
milien, Familien &#x017F;ich in Ge&#x017F;chlechter, Ge&#x017F;chlechter in Sippen, und die&#x017F;e<lb/>
wieder in andere Mannichfaltigkeiten bis zur Jndividualita&#x0364;t &#x017F;cheiden,<lb/>
&#x017F;ondern und umbilden. Ganz ins Unendliche geht die&#x017F;es Ge&#x017F;cha&#x0364;ft der<lb/>
Natur; &#x017F;ie kann nicht ruhen, noch beharren, aber auch nicht Alles,<lb/>
was &#x017F;ie hervorbrachte, bewahren und erhalten. Aus den Samen ent-<lb/>
wickeln &#x017F;ich immer abweichende, die Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e ihrer Theile zu ein-<lb/>
ander vera&#x0364;ndert be&#x017F;timmende Pflanzen&#x201C;.</p><lb/>
        <p>Jn den beiden organi&#x017F;chen Bildungstrieben, in dem kon&#x017F;erva-<lb/>
tiven, centripetalen, innerlichen Bildungstriebe der Vererbung oder<lb/>
der Specifikation einer&#x017F;eits, in dem progre&#x017F;&#x017F;iven, centrifugalen, a&#x0364;ußer-<lb/>
lichen Bildungstriebe der Anpa&#x017F;&#x017F;ung oder der Metamorpho&#x017F;e andrer-<lb/>
&#x017F;eits, hatte <hi rendition="#g">Goethe</hi> bereits die beiden großen mechani&#x017F;chen Naturkra&#x0364;fte<lb/>
entdeckt, welche die wirkenden Ur&#x017F;achen der organi&#x017F;chen Ge&#x017F;talten &#x017F;ind.<lb/>
Die&#x017F;e tiefe biologi&#x017F;che Erkenntniß mußte ihn naturgema&#x0364;ß zu dem<lb/>
Grundgedanken der Ab&#x017F;tammungslehre fu&#x0364;hren, zu der Vor&#x017F;tellung,<lb/>
daß die formverwandten organi&#x017F;chen Arten wirklich blutsverwandt<lb/>
&#x017F;ind, und daß die&#x017F;elben von gemein&#x017F;amen ur&#x017F;pru&#x0364;nglichen Stammfor-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[75/0096] Die Specifikation (Vererbung) und die Metamorphoſe (Anpaſſung). cher Goethe ganz klar das „Gegengewicht“ dieſer beiden aͤußerſt wich- tigen organiſchen Bildungstriebe bezeichnet, lautet folgendermaßen: „Die Jdee der Metamorphoſe iſt gleich der Vis centrifuga und wuͤrde ſich ins Unendliche verlieren, waͤre ihr nicht ein Gegengewicht zugegeben: ich meine den Specifikationstrieb, das zaͤhe Beharr- lichkeitsvermoͤgen deſſen, was einmal zur Wirklichkeit gekommen, eine Vis centripeta, welcher in ihrem tiefſten Grunde keine Aeußerlichkeit etwas anhaben kann“. Unter Metamorphoſe verſteht Goethe nicht allein, wie es heutzutage gewoͤhnlich verſtanden wird, die Formveraͤnderungen, welche das organiſche Jndividuum waͤhrend ſeiner individuellen Entwickelung erleidet, ſondern in weiterem Sinne uͤberhaupt die Umbildung der organiſchen Formen. Die „Jdee der Metamorphoſe“ iſt bei- nahe gleichbedeutend mit unſerer „Entwickelungstheorie“. Dies zeigt ſich unter Anderm auch in folgendem Ausſpruch: „Der Triumph der phyſiologiſchen Metamorphoſe zeigt ſich da, wo das Ganze ſich in Fa- milien, Familien ſich in Geſchlechter, Geſchlechter in Sippen, und dieſe wieder in andere Mannichfaltigkeiten bis zur Jndividualitaͤt ſcheiden, ſondern und umbilden. Ganz ins Unendliche geht dieſes Geſchaͤft der Natur; ſie kann nicht ruhen, noch beharren, aber auch nicht Alles, was ſie hervorbrachte, bewahren und erhalten. Aus den Samen ent- wickeln ſich immer abweichende, die Verhaͤltniſſe ihrer Theile zu ein- ander veraͤndert beſtimmende Pflanzen“. Jn den beiden organiſchen Bildungstrieben, in dem konſerva- tiven, centripetalen, innerlichen Bildungstriebe der Vererbung oder der Specifikation einerſeits, in dem progreſſiven, centrifugalen, aͤußer- lichen Bildungstriebe der Anpaſſung oder der Metamorphoſe andrer- ſeits, hatte Goethe bereits die beiden großen mechaniſchen Naturkraͤfte entdeckt, welche die wirkenden Urſachen der organiſchen Geſtalten ſind. Dieſe tiefe biologiſche Erkenntniß mußte ihn naturgemaͤß zu dem Grundgedanken der Abſtammungslehre fuͤhren, zu der Vorſtellung, daß die formverwandten organiſchen Arten wirklich blutsverwandt ſind, und daß dieſelben von gemeinſamen urſpruͤnglichen Stammfor-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/96
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/96>, abgerufen am 22.11.2024.