Die Specifikation (Vererbung) und die Metamorphose (Anpassung).
cher Goethe ganz klar das "Gegengewicht" dieser beiden äußerst wich- tigen organischen Bildungstriebe bezeichnet, lautet folgendermaßen: "Die Jdee der Metamorphose ist gleich der Vis centrifuga und würde sich ins Unendliche verlieren, wäre ihr nicht ein Gegengewicht zugegeben: ich meine den Specifikationstrieb, das zähe Beharr- lichkeitsvermögen dessen, was einmal zur Wirklichkeit gekommen, eine Vis centripeta, welcher in ihrem tiefsten Grunde keine Aeußerlichkeit etwas anhaben kann".
Unter Metamorphose versteht Goethe nicht allein, wie es heutzutage gewöhnlich verstanden wird, die Formveränderungen, welche das organische Jndividuum während seiner individuellen Entwickelung erleidet, sondern in weiterem Sinne überhaupt die Umbildung der organischen Formen. Die "Jdee der Metamorphose" ist bei- nahe gleichbedeutend mit unserer "Entwickelungstheorie". Dies zeigt sich unter Anderm auch in folgendem Ausspruch: "Der Triumph der physiologischen Metamorphose zeigt sich da, wo das Ganze sich in Fa- milien, Familien sich in Geschlechter, Geschlechter in Sippen, und diese wieder in andere Mannichfaltigkeiten bis zur Jndividualität scheiden, sondern und umbilden. Ganz ins Unendliche geht dieses Geschäft der Natur; sie kann nicht ruhen, noch beharren, aber auch nicht Alles, was sie hervorbrachte, bewahren und erhalten. Aus den Samen ent- wickeln sich immer abweichende, die Verhältnisse ihrer Theile zu ein- ander verändert bestimmende Pflanzen".
Jn den beiden organischen Bildungstrieben, in dem konserva- tiven, centripetalen, innerlichen Bildungstriebe der Vererbung oder der Specifikation einerseits, in dem progressiven, centrifugalen, äußer- lichen Bildungstriebe der Anpassung oder der Metamorphose andrer- seits, hatte Goethe bereits die beiden großen mechanischen Naturkräfte entdeckt, welche die wirkenden Ursachen der organischen Gestalten sind. Diese tiefe biologische Erkenntniß mußte ihn naturgemäß zu dem Grundgedanken der Abstammungslehre führen, zu der Vorstellung, daß die formverwandten organischen Arten wirklich blutsverwandt sind, und daß dieselben von gemeinsamen ursprünglichen Stammfor-
Die Specifikation (Vererbung) und die Metamorphoſe (Anpaſſung).
cher Goethe ganz klar das „Gegengewicht“ dieſer beiden aͤußerſt wich- tigen organiſchen Bildungstriebe bezeichnet, lautet folgendermaßen: „Die Jdee der Metamorphoſe iſt gleich der Vis centrifuga und wuͤrde ſich ins Unendliche verlieren, waͤre ihr nicht ein Gegengewicht zugegeben: ich meine den Specifikationstrieb, das zaͤhe Beharr- lichkeitsvermoͤgen deſſen, was einmal zur Wirklichkeit gekommen, eine Vis centripeta, welcher in ihrem tiefſten Grunde keine Aeußerlichkeit etwas anhaben kann“.
Unter Metamorphoſe verſteht Goethe nicht allein, wie es heutzutage gewoͤhnlich verſtanden wird, die Formveraͤnderungen, welche das organiſche Jndividuum waͤhrend ſeiner individuellen Entwickelung erleidet, ſondern in weiterem Sinne uͤberhaupt die Umbildung der organiſchen Formen. Die „Jdee der Metamorphoſe“ iſt bei- nahe gleichbedeutend mit unſerer „Entwickelungstheorie“. Dies zeigt ſich unter Anderm auch in folgendem Ausſpruch: „Der Triumph der phyſiologiſchen Metamorphoſe zeigt ſich da, wo das Ganze ſich in Fa- milien, Familien ſich in Geſchlechter, Geſchlechter in Sippen, und dieſe wieder in andere Mannichfaltigkeiten bis zur Jndividualitaͤt ſcheiden, ſondern und umbilden. Ganz ins Unendliche geht dieſes Geſchaͤft der Natur; ſie kann nicht ruhen, noch beharren, aber auch nicht Alles, was ſie hervorbrachte, bewahren und erhalten. Aus den Samen ent- wickeln ſich immer abweichende, die Verhaͤltniſſe ihrer Theile zu ein- ander veraͤndert beſtimmende Pflanzen“.
Jn den beiden organiſchen Bildungstrieben, in dem konſerva- tiven, centripetalen, innerlichen Bildungstriebe der Vererbung oder der Specifikation einerſeits, in dem progreſſiven, centrifugalen, aͤußer- lichen Bildungstriebe der Anpaſſung oder der Metamorphoſe andrer- ſeits, hatte Goethe bereits die beiden großen mechaniſchen Naturkraͤfte entdeckt, welche die wirkenden Urſachen der organiſchen Geſtalten ſind. Dieſe tiefe biologiſche Erkenntniß mußte ihn naturgemaͤß zu dem Grundgedanken der Abſtammungslehre fuͤhren, zu der Vorſtellung, daß die formverwandten organiſchen Arten wirklich blutsverwandt ſind, und daß dieſelben von gemeinſamen urſpruͤnglichen Stammfor-
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0096"n="75"/><fwplace="top"type="header">Die Specifikation (Vererbung) und die Metamorphoſe (Anpaſſung).</fw><lb/>
cher <hirendition="#g">Goethe</hi> ganz klar das „Gegengewicht“ dieſer beiden aͤußerſt wich-<lb/>
tigen organiſchen Bildungstriebe bezeichnet, lautet folgendermaßen:<lb/>„Die Jdee der <hirendition="#g">Metamorphoſe</hi> iſt gleich der <hirendition="#aq">Vis centrifuga</hi> und<lb/>
wuͤrde ſich ins Unendliche verlieren, waͤre ihr nicht ein Gegengewicht<lb/>
zugegeben: ich meine den <hirendition="#g">Specifikationstrieb,</hi> das zaͤhe Beharr-<lb/>
lichkeitsvermoͤgen deſſen, was einmal zur Wirklichkeit gekommen, eine<lb/><hirendition="#aq">Vis centripeta,</hi> welcher in ihrem tiefſten Grunde keine Aeußerlichkeit<lb/>
etwas anhaben kann“.</p><lb/><p>Unter <hirendition="#g">Metamorphoſe</hi> verſteht <hirendition="#g">Goethe</hi> nicht allein, wie es<lb/>
heutzutage gewoͤhnlich verſtanden wird, die Formveraͤnderungen, welche<lb/>
das organiſche Jndividuum waͤhrend ſeiner individuellen Entwickelung<lb/>
erleidet, ſondern in weiterem Sinne uͤberhaupt die <hirendition="#g">Umbildung der<lb/>
organiſchen Formen.</hi> Die „Jdee der Metamorphoſe“ iſt bei-<lb/>
nahe gleichbedeutend mit unſerer „Entwickelungstheorie“. Dies zeigt<lb/>ſich unter Anderm auch in folgendem Ausſpruch: „Der Triumph der<lb/>
phyſiologiſchen Metamorphoſe zeigt ſich da, wo das Ganze ſich in Fa-<lb/>
milien, Familien ſich in Geſchlechter, Geſchlechter in Sippen, und dieſe<lb/>
wieder in andere Mannichfaltigkeiten bis zur Jndividualitaͤt ſcheiden,<lb/>ſondern und umbilden. Ganz ins Unendliche geht dieſes Geſchaͤft der<lb/>
Natur; ſie kann nicht ruhen, noch beharren, aber auch nicht Alles,<lb/>
was ſie hervorbrachte, bewahren und erhalten. Aus den Samen ent-<lb/>
wickeln ſich immer abweichende, die Verhaͤltniſſe ihrer Theile zu ein-<lb/>
ander veraͤndert beſtimmende Pflanzen“.</p><lb/><p>Jn den beiden organiſchen Bildungstrieben, in dem konſerva-<lb/>
tiven, centripetalen, innerlichen Bildungstriebe der Vererbung oder<lb/>
der Specifikation einerſeits, in dem progreſſiven, centrifugalen, aͤußer-<lb/>
lichen Bildungstriebe der Anpaſſung oder der Metamorphoſe andrer-<lb/>ſeits, hatte <hirendition="#g">Goethe</hi> bereits die beiden großen mechaniſchen Naturkraͤfte<lb/>
entdeckt, welche die wirkenden Urſachen der organiſchen Geſtalten ſind.<lb/>
Dieſe tiefe biologiſche Erkenntniß mußte ihn naturgemaͤß zu dem<lb/>
Grundgedanken der Abſtammungslehre fuͤhren, zu der Vorſtellung,<lb/>
daß die formverwandten organiſchen Arten wirklich blutsverwandt<lb/>ſind, und daß dieſelben von gemeinſamen urſpruͤnglichen Stammfor-<lb/></p></div></body></text></TEI>
[75/0096]
Die Specifikation (Vererbung) und die Metamorphoſe (Anpaſſung).
cher Goethe ganz klar das „Gegengewicht“ dieſer beiden aͤußerſt wich-
tigen organiſchen Bildungstriebe bezeichnet, lautet folgendermaßen:
„Die Jdee der Metamorphoſe iſt gleich der Vis centrifuga und
wuͤrde ſich ins Unendliche verlieren, waͤre ihr nicht ein Gegengewicht
zugegeben: ich meine den Specifikationstrieb, das zaͤhe Beharr-
lichkeitsvermoͤgen deſſen, was einmal zur Wirklichkeit gekommen, eine
Vis centripeta, welcher in ihrem tiefſten Grunde keine Aeußerlichkeit
etwas anhaben kann“.
Unter Metamorphoſe verſteht Goethe nicht allein, wie es
heutzutage gewoͤhnlich verſtanden wird, die Formveraͤnderungen, welche
das organiſche Jndividuum waͤhrend ſeiner individuellen Entwickelung
erleidet, ſondern in weiterem Sinne uͤberhaupt die Umbildung der
organiſchen Formen. Die „Jdee der Metamorphoſe“ iſt bei-
nahe gleichbedeutend mit unſerer „Entwickelungstheorie“. Dies zeigt
ſich unter Anderm auch in folgendem Ausſpruch: „Der Triumph der
phyſiologiſchen Metamorphoſe zeigt ſich da, wo das Ganze ſich in Fa-
milien, Familien ſich in Geſchlechter, Geſchlechter in Sippen, und dieſe
wieder in andere Mannichfaltigkeiten bis zur Jndividualitaͤt ſcheiden,
ſondern und umbilden. Ganz ins Unendliche geht dieſes Geſchaͤft der
Natur; ſie kann nicht ruhen, noch beharren, aber auch nicht Alles,
was ſie hervorbrachte, bewahren und erhalten. Aus den Samen ent-
wickeln ſich immer abweichende, die Verhaͤltniſſe ihrer Theile zu ein-
ander veraͤndert beſtimmende Pflanzen“.
Jn den beiden organiſchen Bildungstrieben, in dem konſerva-
tiven, centripetalen, innerlichen Bildungstriebe der Vererbung oder
der Specifikation einerſeits, in dem progreſſiven, centrifugalen, aͤußer-
lichen Bildungstriebe der Anpaſſung oder der Metamorphoſe andrer-
ſeits, hatte Goethe bereits die beiden großen mechaniſchen Naturkraͤfte
entdeckt, welche die wirkenden Urſachen der organiſchen Geſtalten ſind.
Dieſe tiefe biologiſche Erkenntniß mußte ihn naturgemaͤß zu dem
Grundgedanken der Abſtammungslehre fuͤhren, zu der Vorſtellung,
daß die formverwandten organiſchen Arten wirklich blutsverwandt
ſind, und daß dieſelben von gemeinſamen urſpruͤnglichen Stammfor-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/96>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.